Nach der Wahl ist vor Wahl
23. Juni 2016
Es ist nicht zu übersehen: Die Spanier sind der Politik überdrüssig. Über Wochen hatten die Parteiführer nach den Parlamentswahlen vom Dezember 2015 verhandelt, sich aber nicht einigen können. Eine Umfrage des Instituts Metroscopia für die Tageszeitung El Pais hat ergeben, dass nur 70 Prozent der Wähler ihren Stimmzettel abgeben wollen. Von der hohen Wahlenthaltung könnte der konservative Interims-Premierminister Mariano Rajoy von der Partei "Partido Popular" (PP) profitieren. Dessen Anhänger der Partei neigen weniger zur Wahlenthaltung als die Wähler der anderen Parteien.
Zu denen, die ihre Stimme der PP geben wollen, gehört auch Cristiano. Der 82-Jährige ist sich darüber im Klaren, dass der demografische Trend sich nicht zu Gunsten der traditionellen Parteien auswirkt. "Die jungen Menschen wollen offenbar ein bisschen experimentieren", sagt er im Gespräch mit der DW. "Aber die über 60 Jährigen setzen auf Ordnung. Darum wählen sie den PP."
Obwohl die Regierungspartei sich unzähligen Korruptionsfällen gegenübersieht, wird sie weiterhin von der Mehrheit der konservativen Wähler unterstützt. So auch von Cristiano. Er will weiterhin für die PP stimmen. "Es ist zwar wahr, dass die Konservativen sich bereichert haben – aber das tun alle Politiker. Doch wenn die Kommunisten gewinnen, werden sie Spanien vor die Wand fahren."
Protest gegen Sparkurs
Die "Kommunisten", die Cristiano meint, heißen "Unidos Podemos". Es handelt sich um eine Koalition der Linksparteien "Podemos" und der "Izquierda Unida" (Vereinigte Linke), die gegen den Sparkurs der Regierung opponieren. Das Bündnis verzeichnet in den Umfragen einen rasanten Aufschwung und wird bei den Wahlen aller Voraussicht nach auf den zweiten Platz kommen.
"Unidos Podemos" ist für das politische Establishment eine erhebliche Bedrohung. Allerdings gilt der Führer der Partei, Pablo Iglesias, als arrogant und aufbrausend und ist sogar unter seinen Wählern nicht beliebt.
Die gegen einen strengen Sparkurs gerichtete Koalition kontrolliert mit Madrid, Barcelona und Valencia bereits die drei größten spanischen Städte. Voraussetzung waren Bündnisse mit lokalen und regionalen Gruppen; zudem hat sie viele Anhänger unter den städtischen, jungen und gebildeten Wählern.
"Ich werde für Unidos Podemos stimmen, auch wenn ich mir Pablo Iglesias nicht als spanischen Premierminister vorstellen kann. Er sieht einfach nicht danach aus", sagt die 55-jährige Flor. Sie und ihr Mann Leandro kamen vor 30 Jahren aus Argentinien nach Spanien. Seitdem arbeiten sie als freie Grafikdesigner in Madrid.
Mitleid mit den Sozialisten
Flor und Leandro glauben, dass auch ihre Bekannten für Podemos stimmen werden. "Natürlich sind wir überwiegend links eingestellt. Aber keiner unserer Freunde beabsichtigt, seine stimme der sozialistischen Partei PSOE zu geben", sagt Flor.
Ein Bekannter hat neulich gesagt, ihm tue Pedro Sanchez, der Vorsitzende der PSOE, leid; darum überlege er, für ihn zu stimmen. Das war natürlich ganz amüsant. Aber im Ernst: Ich selbst gehörte bis vor einer Weile noch zu den Wenigen, die Sanchez mochten. Aber inzwischen tut er mir nur noch leid."
Sanchez´ PSOE sieht sich der größten Krise seit Jahrzehnten gegenüber. Zum ersten Mal, seit Spanien 1978 zur Demokratie zurückfand, befinden sich die Sozialisten Umfragen zufolge nicht unter den beiden Parteien mit den meisten Stimmen.
Trotz der schlechten Umfragewerte kann die PSOE auf günstige Umstände hoffen. Das nationale Wahlsystem begünstigt ländliche Regionen. Dort - etwa in Andalusien und Extremadura – hoffen die Sozialisten, ihrer Konkurrenz von links den Rang abzulaufen.
Progressive Wähler, konservative Regierung
Doch unabhängig davon, wer die meisten Stimmen oder Sitze erhält: Sicher scheint nur, dass keine Partei oder Koalition auch nur in die Nähe der 176 Sitze kommt, die für eine Regierungsbildung nötig sind. Das schwierige persönliche Verhältnis zwischen den drei Parteiführern (Rajoy, Iglesias und Sanchez) sowie der sich abzeichnende Unabhängigkeitsprozess in Katalonien werden die Verhandlungen erheblich erschweren, insbesondere unter den linken Parteien.
Sanchez hat bereits erklärt, er wolle die Bildung einer von Rajoy oder Iglesias geführten Regierung nicht unterstützen. Iglesias würde zwar gerne mit Sanchez zusammenarbeiten, nicht aber mit der rechten PP oder der neuen, rechtsliberalen Partei Ciudadanos.
Gleichzeitig stellt sich Ciudadanos-Chef Albert Rivera - seine Partei dürfte Umfragen zufolge um die 40 Sitze erzielen - als Scharnier zwischen PP und PSOE dar. Seine Partei steht in scharfem Gegensatz zu Unidos Podemos, die sich für ein Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens aussprechen. Beide Parteien haben dort eine starke Basis.
Antonio Barroso, stellvertretender Forschungsdirektor am Teneo-Forschungsinstitut London, erklärte in einem Brief an die Unternehmenskunden, die Wahlen würden eine Regierungsbildung "kaum leichter machen." Für Barroso ist das wahrscheinlichste Ergebnis eine PP-geführte Minderheitsregierung, die von den Ciudadanos unterstützt und der PSOE geduldete wird.
Der politische Kommentator und Autor Carlos Santos hält die Aussichten für eine stabile Mehrheitsregierung für gering – "auch wenn sie gegeben sind." In einem ist sich Santos mit Barroso einig: "Obwohl die Mehrheit der Wähler Links wählen, stehen die Chance auf eine rechtsgerichtete Regierung höher."