Spalten die Proteste die Gesellschaft?
15. Juni 2013Seit mehr als zwei Wochen befand sich das Herz der Protestbewegung im Zentrum Istanbuls. Im Gezi-Park demonstrierten Studenten, Schüler, Intellektuelle - kurz: die westlich-orientierte Gesellschaftsschicht, die sich als Motor der Bewegung versteht. Ihre Kritik richtet sich seit den gewaltsamen Polizeieinsätzen hauptsächlich gegen den autoritären Regierungsstil von Premier Recep Tayyip Erdogan.
Seine öffentlichen Reden und Aussagen waren Grund dafür, dass in den sozialen Netzwerken aber auch an unzähligen Hauswänden in der Istanbuler Innenstadt mit Graffiti das Wort "Bürgerkrieg" zu lesen war. Nachdem die Demonstranten am Samstag (15.06.2013) angekündigt hatte, die Aktion fortsetzen zu wollen, ließ Erdogan am Abend den Gezi-Park von der Polizei mit Gewalt räumen. Die Regierungspartei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) veranstaltet derweil Unterstützungs-Demos für den Premier. Bei vielen Menschen macht sich das Gefühl breit, dass Erdogan das Volk spalten wolle: zwischen islamischem Konservatismus und westlicher Orientierung.
Auffällige Gegensätze
In unmittelbarer Nähe zum Gezi-Park wohnen viele Anhänger von Erdogans islamisch-konservativ ausgerichteter AKP. Im Viertel Zeytinburnu gehören verschleierte Frauen und Männer mit Gebetsketten zum Stadtbild. Hier wird eher ungern über die eigene politische Meinung gesprochen.
"Erdogan ist der Beste. Wir können uns niemand anderen vorstellen", sagt eine Frau schüchtern und mit gesenktem Kopf gegenüber der Deutschen Welle. Das sei das einzige was sie dazu sagen könne, so die junge Frau. "Wenn es um Politik geht, dann sage ich nichts", meint ein Mann auf der Straße. Einen Riss in der Gesellschaft sieht der bekennende AKP-Wähler Okan Özdemir trotz der allgemeinen Zurückhaltung der Bewohner seines Viertels nicht. "Wenn man sich umschaut, ist keine Trennlinie zu erkennen“, meint der 28-Jährige im DW-Gespräch. Dies sei allein eine fixe Idee der Medien, so Özdemir.
Spaltungsversuch als Strategie
In den vergangenen zwei Wochen zeigte Erdogan überwiegend Verständnislosigkeit und bezeichnete die Demonstranten abwertend als "Gesindel". Er erklärte, für die landesweite Protestbewegung seien "Extremisten" verantwortlich, denen er mit strafrechtlichen Konsequenzen drohte. Seine Anhängerschaft rückte der Premier dagegen in ein gutes Licht. "Ihr habt euch in den letzten Tagen würdevoll verhalten und gesunden Menschenverstand gezeigt. Ihr habt keine Pfannen und Töpfe in euren Händen", sagte der Premier während einer Rede am Istanbuler Flughafen vor Tausenden seiner Anhänger vor einer Woche. Das Töpfeschlagen auf den Straßen und Balkonen ist zum landesweiten Symbol für die Proteste geworden.
Seine Anhängerschaft antwortete dem Premier lautstark mit religiösen Rufen wie "Ya Allah, Bismillah, Allahu Akbar" und Kampfansagen wie "Lasst uns gehen, wir werden den Protest auf dem Taksim zerstören." Erdogan appellierte seinerseits an die religiösen Empfindsamkeiten seiner Unterstützer. So erkläre er wiederholt, dass die Demonstranten an einem muslimischen Festtag Alkohol ausgeschenkt hätten. Einigen Frauen sollen die Kopftücher heruntergerissen worden seien, lautet eine weitere Beschuldigung.
"Von Beginn an ist das genau seine Strategie gewesen. Das ist der Versuch der Regierung die Protestbewegung als einen Krieg der Kulturen darzustellen. Ein Krieg zwischen den frommen Moslems und den Bösewichten", so der Sozial- und Politikwissenschaftler Yasar Adanali im DW-Gespräch. Erdogan instrumentalisiere die Religion, werfe den Demonstranten vor, religiöse Symbole nicht zu respektieren, so Adanali. "Das ist aber keineswegs der Fall. Die Demonstranten sind eine vielschichtige Gruppe", betont der 32-Jährige. Die Regierung versuche, einzelne Vorkommnisse zu verallgemeinern und diese als typisch für die gesamte Massenbewegung darzustellen, so Adanali. "Als eine antireligiöse und antimuslimische Bewegung, aber die Zusammensetzung der Demonstranten beweist, dass keine gesellschaftliche Schicht ausgeschlossen wird", argumentiert der Politikwissenschaftler.
"Alle sitzen im gleichen Boot"
Es sei wichtig für ein Land, Einigkeit zu zeigen, betont der 42-jährige Turgay Gülsen, Besitzer des Restaurants Voltaj im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu. "Alle, die in diesem Land leben, sehe ich als Brüder", so der AKP-Wähler im DW-Gespräch. Alle säßen im gleichen Boot und wenn es sinke, "dann sinken alle gemeinsam", so Gülsen. Er kritisiert vor allem den Sachschaden, der durch die Demonstrationen verursacht wurde. "Warum verbrennen sie die Busse und die Bankautomaten? All das ist durch unsere Steuergelder bezahlt worden", sagt Gülsen. Zu demonstrieren sei ihr gutes Recht, aber nicht zu randalieren und Sachbeschädigung zu betreiben.
Seinen Premier unterstützt der Restaurantbesitzer vor allem aufgrund seines "bodenständigen Charismas" und seines wirtschaftlichen Erfolgs. Gülsen lebt seit 30 Jahren in Istanbul und erinnert sich noch gut an die Wasserknappheit, die früher in der Millionenmetropole herrschte. "Damals waren wir zehn Millionen mit Wasserproblemen. Jetzt sind wir fast 20 Millionen ohne solche Probleme", lobt Gülsen die Arbeit des Premierministers. Die demokratischen Verhältnisse in seinem Land findet er zwar "nicht perfekt", jedoch sei das nirgendwo auf der Welt der Fall, so Gülsen. Die Einmischung der Regierung in die Privatsphäre der Bürger, die von den Demonstranten kritisiert wird, erachtet Gülsen auch als "falsch". "Wer will, soll ein Kopftuch tragen, wer will, soll einen Minirock tragen", so der gläubige Moslem.
Proteste führen zur Einheit, nicht zur Trennung
Im Gezi-Park seien Menschen zusammengekommen, die seit zehn Jahren nicht zusammengekommen sind, erklärt die Demonstrantin Zeliha Ocak gegenüber der Deutschen Welle. "Die Menschen hier denken nicht, dass sie getrennt werden. Erdogan versucht jedoch, die Menschen zu trennen. Der einzige Provokateur in diesem Land ist Erdogan", so die 26-Jährige. Auch gläubige Menschen seien bei der Protestbewegung ausdrücklich erwünscht, betont Ocak. "Wir heißen jeden willkommen", sagt sie. Auch ihr Mitstreiter Yilmaz ist der Meinung, dass es keine Trennung in der Gesellschaft gibt. "Wir sind alle gleich", meint der 33-Jährige. Hass oder Wut sei immer noch nicht zu spüren.