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Architektur

Notruf für brutalistische Architektur

Julia Hitz
8. November 2017

Viele brutalistische Bauten sind vom Abriss bedroht. An den Gebäuden aus rohem Beton scheiden sich seit jeher die Geister. Das Deutsche Architekturmuseum bemüht sich um die (Ehr-)Rettung einer architektonischen Epoche.

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Der Trellick Tower in London (Foto: Imago/imagebroker)
Das höchste Gebäude sozialen Wohnungsbaus in Europa: Der Trellick Tower in LondonBild: Imago/imagebroker

Sie werden geliebt oder gehasst, aber kalt lässt der Anblick der massiven Bauten aus rohem Beton kaum jemanden. "Brutalismus - es gibt wohl keinen Architekturstil mit einem so unglücklich gewählten Namen", meint Catherine Croft, die als Direktorin der britischen Twenthieth Century Society für die Anerkennung und den Schutz des modernistischen Baustils mobil macht. Doch die Betonkolosse haben in Großbritannien auch schwergewichtige Gegner: Zu den entschiedenen Hassern brutalistischer Architektur gehört nämlich der Prince of Wales höchstpersönlich.

Beliebtes Sujet im Netz

Der Streit wird mittlerweile auch über das Internet ausgetragen. Brutalistische Gebäude füllen die Social Media Feeds von Facebook über Twitter bis Tumblr. Knapp 40.000 Mitglieder zählt die "Brutalism Appreciation Society" auf Facebook, in der den Betonbauten gehuldigt wird. Die dramatische Wirkung der Gebäude wird durch untersichtige Perspektiven auf den Schwarz-Weiß-Fotografien noch verstärkt. Auch Kleider und Kissenbezüge wurden mit brutalistischen Motiven bedruckt. Wer möchte, kann sich eine Prise Brutalismus als Accessoire ins Wohnzimmer holen.

Catherine Croft, Direktorin Twenthieth Century Society (Foto: Julia Hitz / DW)
Catherine Croft, Direktorin Twenthieth Century SocietyBild: DW/J. Jitz

Den Social Media Hype macht sich ein Projekt zunutze, das zur (Ehr-)Rettung des Brutalismus angetreten ist: Unter dem Hashtag "SOSBrutalism" will das deutsche Architekturmuseum (DAM) in Kooperation mit der Stiftung Wüstenrot die streitbaren Gebäude weltweit sichtbar machen und - wenn nötig - auch vor der Zerstörung retten. "Brutalismus steht für eine Anti-Haltung, eine Anti-Idylle", die einem nicht egal sein könne, sagt Mitinitator Philip Kurz von der Stiftung Wüstenrot. Mehr als 1000 Gebäude - von London über Tokyo bis Abidjan und Caracas - sind schon auf der Webseite sosbrutalism.org dokumentiert. Auch bereits abgerissene und akut vom Abriss bedrohte Bauten. Die Ausstellung "SOS Brutalismus - Rettet die Betonmonster" im DAM gibt von diesem Donnerstag an einen Überblick über die Architekturepoche. Gezeigt werden Beispiele aus der ganzen Welt. Zu sehen sind Fotografien von Gebäuden aus Japan, Brasilien, dem ehemaligen Jugoslawien, den USA, Israel, Großbritannien und Westdeutschland, wo zwischen 1950 und 1980 einige Kirchenbauten im brutalistischen Stil errichtet wurden.

Brut, nicht brutal

Die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Blütezeit der grauen Riesen, die später gerne als Bausünden bezeichnet wurden. Rauheit, entschiedene Geometrien und der Hang zum Monolithischen einen den Stil. Architekturtheoretisch gehören außerdem die Materialsichtigkeit und die Zurschaustellung der Konstruktion zu den grundlegenden Kriterien. Neben dem Sichtbeton (béton brut = roher Beton) ist auch die art brut von Jean Dubuffet Referenz für die Bezeichnung des Stils. Le Corbusier gilt mit seiner Unité d'habitation in Marseille als Vorreiter der Bewegung. Wahrhaftigkeit und Kompromisslosigkeit hatte sich diese Generation von Architekten auf die Fahnen geschrieben.

Deutschland Berlin Kirche St. Agnes
Gerettet: Die St. Agnes Kirche in Berlin ist nun Sitz der Galerie KönigBild: picture-alliance/Tagesspiegel/D. Spiekermann-Klaas

Die meisten Gebäude haben heute ein Alter von rund fünfzig Jahren: Gepflegt und instand gehalten top attraktiv, doch vernachlässigt werden kleine Unzulänglichkeiten zu echten Problemen. Der Londoner Wohnkomplex Robin Hood Gardens, gebaut von den Brutalismus-Mitgründern Alison und Peter Smithson, verwahrloste und sollte abgerissen werden. Es formierte sich Protest. Die Kampagne gegen den Abriss hatte prominente Unterstützer wie Zaha Hadid und Richard Rogers - aber sie blieb erfolglos. Der Kampf um den Denkmalschutz wurde verloren, im Spätsommer 2017 rückten die Bagger an. Dennoch sieht Initiatorin Catherine Croft insgesamt Fortschritte: "Die Gebäude sahen einfach schäbig aus. Aber jetzt werden sie wieder in ihrer Qualität wahrgenommen. Wir müssen jetzt die Behörden dazu bringen, in sie zu investieren."

Jenseits der Fassade

Großbritannien London Robin Hood Gardens (Foto: Julia Hitz / DW)
Ein Fall für die Abrissbirne: Robin Hood Gardens in LondonBild: DW/J. Jitz

Es gibt positive Beispiele wie den Trellick Tower in London. In den 1970er-Jahren galt er als sozialer Brennpunkt, von der Regenbogenpresse gerne "Tower of Terror" genannt. Nachdem aber Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt worden waren und er seit 1998 unter Denkmalschutz stand, genießt er heute - nicht zuletzt durch unzählige Film- und Musikvideoproduktionen, die dort stattfanden - Kultstatus und ist ein begehrtes Mietobjekt.

Der Brutalismus hat einen kollektivistischen Ansatz, er wollte eine Alternative sein zur Nachkriegsarchitektur. Manche Architekten sehen ihn - in seiner oft bunkerhaften Anmutung - auch als Teil der Verarbeitung von Kriegstraumata. Denkmalpflegerisch sind durchaus Erfolge zu verzeichnen. Insofern ist die Anmutung des Brutalen in der heutigen Gesellschaft vielleicht schon wieder ein Wettbewerbsvorteil. "In einer Gesellschaft, die arm an Revolutionärem ist, berührt uns diese Architekten mit ihren revolutionären Ideen", erklärt Philip Kurz den Erfolg der Kampagne. Es muss sich zeigen, wie weit die Faszination über das Klicken und Liken hinausgeht.

Das Rathaus der niederländischen Stadt Terneuzen (Foto: Friedrich Tellberg)
Das Rathaus der niederländischen Stadt Terneuzen, erbaut im Stil des BrutalismusBild: Friedrich Tellberg

Die Ausstellung "SOS Brutalismus - Rettet die Betonmonster!" ist vom 9. November 2017 bis 2. April 2018 im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main zu sehen.