Tagebuch aus Baku: Tag 1
23. Mai 2012An der Passkontrolle warten junge Aserbaidschanerinnen im roten Contest-Shirt und mit strahlendem Lächeln, helfen beim Visumsantrag und geleiten anschließend zur Gepäckausgabe und dann zum Taxistand. Ein heftiger Wind, der schon in der Luft für arge Turbulenzen sorgte, treibt uns vor sich her. Jetzt wissen wir auch, warum Baku die "Stadt der Winde" genannt wird.
Sprachkenntnisse helfen
"Sie müssen die Londoner Taxis nehmen, nur die können eine Quittung ausstellen", erklärt die 20-jährige Aziza in perfektem Englisch. Die überdimensionalen Mietwagen sehen aus, als ob man sie aus einem Edgar Wallace Film der 60er Jahre importiert hätte und sind rundum mit dem ESC Logo bemalt. Die Englischkenntnisse des Fahrers sind eher bescheiden, erstaunlicherweise helfen acht Semester Türkischkurs in der Volkshochschule weiter. Er versteht uns, offenbar ist das Azerische eng mit der Sprache des Nachbarlands verwandt.
Erhellendes zu Beginn
Die Zubringerautobahn zur City erinnert an belgische Autobahnen: Festbeleuchtung allerorten, allerdings hängen hier an jeder Laterne Eurovisionherzen, die ebenfalls hell erstrahlen. Links und rechts der Straße wechseln sich imposante Gebäude wie auf den Pariser Prachtboulevards mit orientalischen reich verzierten Palästen ab. Statt Leitplanken tauchen in der Mitte der achtspurigen Straße plötzlich Mauern mit Ornamenten wie aus 1001er Nacht auf - und man kann sie trotz der eingebrochenen Nacht gut erkennen: Auch sie erstahlen in gleißendem Licht.
Von einem Werbeplakat strahlt Aserbaidschans Präsident Aliyev herab, direkt neben einem riesigen Eurovisionsposter, das eine ganze Häuserwand einnimmt. Unser Hotel sieht aus, als habe die Alhambra Pate gestanden; innen allerdings überzeugt der piefige Charme vergangener Sowjetrepublikzeiten nicht ganz.
Das freundliche Personal macht das locker wieder wett - in perfektem Englisch und Türkisch natürlich.
Zum Ort des Geschehens
Eine Stunde später sitzen wir schon wieder im London Taxi. Diesmal auf dem Weg zur Crystal Hall, um uns als Vertreter der Pressezunft zu akkreditieren und anschließend dem ersten Halbfinale beizuwohnen.
Auf dem Weg Richtung Zentrum zeigt die glitzernde ESC-Welt erste Risse. Überall stehen Polizeiwagen, und das Links-Abbiegen zum Ort des Geschehens ist verboten. Unser Taxi-Fahrer diskutiert an fünf Straßensperren mit den Ordnungshütern, er habe doch die Presse an Bord, was das für einen Eindruck mache. Mit grimmigen Gesichtern blicken die Gescholtenen auf die Gäste im Wagen und winken ab. Erst an der sechsten Sperre dürfen wir passieren - und nur wir. "Gibt es Probleme", frage ich. "Nein", sagt der Fahrer, "alles bestens."
Unbehagen stellt sich ein
Auch im Pressezentrum wird das Nachhaken nicht gern gesehen. "Es ist alles bestens, die Polizei ist nur zu Ihrer Sicherheit da." Später macht unter den ausländischen Journalisten das Gerücht die Runde, islamische Fundamentalisten hätten mit einem Anschlag gegen das dekadente Spektakel gedroht. Immerhin: Das Nachbarland Iran soll seinen Botschafter abgezogen haben, weil unter anderem der Eurovision Song Contest den Islam falsch darstelle.
Irgendwie fühlen wir uns ein wenig eingesperrt. Im hermetisch abgeriegelten Gelände tauchen immer wieder Zäune und neue Kontrollen auf, sogar die Taschen werden wie am Flughafen durchleuchtet, um nicht ins Allerheiligste, der Crystal Hall, aber zumindest ins Medien Center zu gelangen. Dort springen gerade die russischen Kollegen mit Fahnen vor dem Bildschirm herum und feiern die Babuschkas, die ihr Land vertreten.
Die erste Show
Cay-Tee, gibt es, dazu Ayran, Wasser, ein zuckriges Gesöff in grellen Farben namens Gülistan und Gebäck zum Nulltarif - aber kein Bier, wie die westeuropäischen Kollegen bemängeln. Es kann ja nicht alles perfekt sein. Um zwei Uhr morgens Ortszeit ist das erste Halbfinale vorbei. Die Russen jubeln immer noch, die Verlierer ziehen traurig von dannen. Schräge Typen wie Rambo Amadeus aus Montenegro oder Trackshittaz aus Österreich hatten null Chancen, Mainstream ist angesagt.
Der Weg ist das Ziel
Kostenlose Busse fahren auf dem Gelände und liefern die Pressemeute aus aller Welt bei den Londoner Taxis ab - die mit der Quittung. "Wie heißt das Hotel, wo sie hinwollen? Qafqaz Park? Natürlich, kenne ich - aber eben nicht so richtig", sagt der Fahrer und erkundigt sich bei seinen Kollegen. "Ah, alles klar." Eine halbe Stunde später stehen wir vor einem Hotel, das zwar Qafzqaz heißt - aber ohne Park, und wie die Alhambra sieht es auch nicht aus, eher wie ein Plattenbau.
Das sei das richtige Haus, besteht der Fahrer auf seiner Ortskenntnis, aber wir bleiben stur sitzen, DAS ist nicht unsere Unterkunft. Ich drücke dem Fahrer ein Kärtchen des Etablissements in die Hand und ermuntere ihn anzurufen und nach dem Weg zu fragen. Leider ist er etwas betagter und kann die Nummer nicht erkennen, also wähle ich selbst. "Kennen Sie jetzt den Weg?" "Ja natürlich", meint er beleidigt.
Baku bei Nacht
In der nächsten langen halben Stunde lernen wir auch die unbeleuchteten Ecken der Stadt kennen. Die Häuser sind heruntergekommen, und ESC-Herzen gibt es auch keine. In immer kürzeren Abständen ruft die Ehefrau unseres Motoristen an und fordert ihn auf heimzukommen, immerhin sei es schon drei Uhr. Ihr Schimpfen hört man selbst im Fond der Maxi-Karosse. Wir fahren noch drei weitere Hotels an. Ist es das hier? Wo muss ich lang fahren? Irgendwann kennen wir uns ganz gut aus in der Gegend, und dann plötzlich erscheint ein futuristisches Gebäude, das mir bekannt vorkommt. Beim Blick aus meinem Hotelfenster habe ich das doch schon mal gesehen? Geschafft.
Nur den Wunsch nach einer Quittung scheint der Fahrer nicht zu verstehen. Plötzlich kann er kein Türkisch mehr, nur noch Russisch. Wie gut, dass ich das mal in der Volkshochschule hatte. Eine Quittung hat der Fahrer trotzdem nicht. Er will sie morgen vorbei bringen.