"Solidarität mit Flüchtlingen und Bangladesch"
22. Oktober 2017DW: Wie ist die aktuelle Lage in den Flüchtlingslagern in Bangladesch?
Seit dem 25. August sind weit über eine halbe Million Flüchtlinge aus der Rohingya-Volksgruppe in der Region um Cox's Bazar in Bangladesch angekommen. Bis jetzt (19.10.) wurden 582.000 Flüchtlinge registriert. Allerdings kommen täglich neue Flüchtlinge an, wie wir bei unseren Erkundungen in der Region feststellen. Es handelt sich um die derzeit am schnellsten zunehmende Zahl von Flüchtlingen weltweit, wir müssen uns also sehr beeilen, um die tatsächliche Anzahl an Menschen feststellen zu können, die dringend der Hilfe bedürfen.
Die Rohingya sind mit nichts außer ihren Kleidern in Bangladesch angekommen. Sie sind vor Gewalt geflohen, wir haben niedergebrannte Dörfer gesehen, wir kennen Berichte über schreckliche Gewalttaten gegen diese Menschen. Viele kamen verwundet an, viele haben Knochenbrüche. Frauen wurden vergewaltigt und andere Arten von sexueller Gewalt erlebt. Bei den meisten Flüchtlingen handelt es sich um Frauen, Kinder und ältere Leute.
Wie viel Geld ist nötig, um die Lage in den Griff zu bekommen?
Das ist nicht leicht zu beantworten, denn die Krise weitet sich ständig aus. Die Kosten steigen, während wir miteinander sprechen. Wir sind auch wegen der Wohnverhältnisse der Flüchtlinge besorgt. Sie bauen sich improvisierte Zelte und Unterstände ohne Wasser- und Sanitärversorgung. Es besteht die Gefahr einer Notlage innerhalb einer Notlage, wie wir das nennen. Es könnte zum Ausbruch von Cholera kommen, oder einer anderen Epidemie. Es besteht ein hohes Risiko.
Was muss getan werden, um die Lage zu stabilisieren?
Wir haben als UNOCHA gemeinsam mit internationalen NGOs einen Reaktionsplan erstellt. Dieser zielt darauf ab, 1,2 Millionen Menschen Hilfe zukommen zu lassen. Warum 1,2 Millionen bei rund 600.000 Flüchtlingen? Wir müssen auch den aufnehmenden Kommunen helfen. Die Flüchtlinge strömen in dicht besiedelte und arme Gebiete. Wenn dort plötzlich 600.00 zusätzliche Bewohner auftauchen, setzt das die lokalen Ressourcen unter massiven Druck. Zur Finanzierung aller Projekte des Reaktionsplans sind 434 Millionen US-Dollar nötig. Das würde bis Ende Februar nächsten Jahres reichen.
Was ist konkret vorgesehen?
Es geht um die Verteilung von Nahrungsmitteln. Wir wollen beim Bau von Unterkünften helfen. Sehr wichtig ist die Versorgung mit Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen. Verschmutztes Wasser birgt ein hohes Risiko des Ausbruchs von Epidemien. Die Flüchtlinge brauchen verschiedene Arten medizinischer Versorgung, neben Soforthilfe für die Verwundeten brauchen wir auch eine medizinische Grundversorgung wie in jeder Gesellschaft. Frauen und Kinder, die sexuelle Gewalt erlebt haben, benötigen auch psychologische Betreuung. Die Kollegen von UNICEF machen sich Sorgen um Kinder, die erlebt haben, wie ihre Familien ermordet wurden. Sie sind jetzt in Bangladesch, aber apathisch. Sie sitzen stumm da und schauen ins Leere. Sie brauchen dringend psychologische Hilfe, um diese schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten, wenn das überhaupt möglich ist.
Von UN-Sonderberatern ist dieser Tage zu hören, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Krise bislang unzureichend gewesen sei. Was sind Ihre Erwartungen an die internationale Gemeinschaft?
Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, dass sie mehr tut, um den geflüchteten Rohingya zu helfen. Wir erwarten von ihr Solidarität mit den Flüchtlingen und mit der Bevölkerung und der Regierung von Bangladesch. Bangladesch hat die Grenzen offen gehalten, es hat die Rohingya begrüßt und die Flüchtlinge mit dem zur Verfügung Stehenden versorgt, so dass sie Schutz vor Verfolgung in Myanmar hatten. Wir müssen jetzt als internationale Gemeinschaft unseren Beitrag leisten und benötigen dafür die Unterstützung der Geber. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in Frage stellt, dass diese Menschen jede Unterstützung benötigen, die sie bekommen können.
Ihr Reaktionsplan bezieht sich auf die kommenden sechs Monate. Was muss politisch geschehen, auch auf längere Sicht?
Von UN-Seite haben wir immer gesagt: Die Wurzel des Problems liegt in Myanmar, und die Lösung muss dort gefunden werden. Für die aus Myanmar Geflohenen geht es zu allererst um Hilfe zum Überleben. Wir sind uns darüber im klaren, dass wir auch über sechs Monate hinaus schauen müssen. Denn wir müssen diese Menschen über einen größeren Zeitraum unterstützen und sie in die Lage versetzen, dass sie in den Rakhine-Staat (Siedlungsgebiet der Rohingya in Myanmar- DW) zurückkehren können – wenn sie das freiwillig und in Sicherheit tun können. Wann das sein wird, kann ich jetzt unmöglich vorhersagen. Aber es ist natürlich das langfristige Ziel.
Jens Laerke ist stellvertretender Sprecher des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in Genf.