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"Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht"

Susanne von Schenck24. November 2013

Von Neuseeland bis Argentinien: Der Journalist Tobias Wenzel hat Schriftsteller auf Friedhöfen getroffen. Seine Friedhofsgänge sind jetzt als Buch erschienen: Gedanken über Trauer, Tod und Leben.

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Tobias Wenzel hinter seiner Großformatkamera (Copyright: Knesebeck Verlag)
Bild: Knesebeck/Nicolson Baker

Das Campo de Mayo bei Buenos Aires ist eigentlich kein Friedhof. Dort verschwanden Ende der 1970er Jahre während der argentinischen Militärdiktatur zahlreiche Regimekritiker. Auch von den Eltern des Schriftstellers Félix Bruzzone verlor sich jede Spur, wie er dem Berliner Journalisten Tobias Wenzel erzählt. Sein Vater wurde 1976, drei Monate vor der Geburt des Sohnes, verhaftet und nie wieder gesehen. Die Mutter ereilte das gleiche Schicksal drei Monate nach seiner Geburt.

Was aus ihnen wurde, hat Félix Bruzzone nie erfahren – sie wurden zum Leitmotiv seines ersten Romans. Eine Beziehung zu ihnen konnte er nie entwickeln, einen Ort der Trauer gibt es nicht. Aber weil die Eltern zum letzten Mal auf dem Campo de Mayo gesehen wurden, hat er sich als Ersatz dort eine von Pflanzen überwucherte Stelle gesucht. "Ich spüre sehr deutlich: ich habe kein Grab, zu dem ich gehen kann, um an meine Eltern zu denken. Aber das Grab ruft mich."

Ort der Begegnung

Der dänische Krimiautor Jussi Adler-Olsen hingegen hat einen Ort, an dem er Zwiesprache mit seinen Eltern halten kann: auf einem Friedhof bei Kopenhagen. Dort hat er sich mit Tobias Wenzel getroffen. Den Erfinder des Polizeibeamten Carl Mørck begleitet der Tod seit frühster Kindheit: Beerdigungen von Großeltern, Onkeln, Tanten, Ertrunkenen an der dänischen Küste. Jussi Adler-Olsens Vater war Oberarzt in einer psychiatrischen Klinik. Er starb 1996, und Adler-Olsen besuchte einmal wöchentlich sein Grab, gemeinsam mit der Mutter.

Trauern am Grab: Jussi Adler-Olsen

"Meine Mutter und ich haben hier am Grab so oft zusammen geweint. Gar nicht mal wegen meines Vaters, vielmehr, weil er uns zurückgelassen hat." sagt der 63-Jährige. "Das ist das Schlimme am Sterben: Man selbst wird kleiner nach dem Tod von Menschen, die einem nahe stehen. Ihre Erinnerung an dich, ihre Liebe dir gegenüber verschwindet vollkommen." Vor drei Jahren starb auch die Mutter. Der Verlust der Eltern, so der Autor, hinterlasse eine nicht zu schließende Lücke. Das Grab als fester Ort spendet ihm daher Trost.

Aus Zufall wird Programm

Schriftsteller auf Friedhöfen? Die ungewöhnliche Idee kam Tobias Wenzel in einem Café. Dort hatte er sich mit einem isländischen Schriftsteller zum Interview verabredet. Der Geräuschpegel war jedoch so hoch, dass ein Gespräch nicht möglich war. Weil gegenüber ein Friedhof war, gingen die beiden kurzerhand dorthin. An diesem besonderen Ort, fand Wenzel, bekam das Gespräch plötzlich eine andere Intensität. Bald machte er diesen Zufall zum Programm, schrieb einige der weltweit prominentesten Autoren an und bat sie, sich mit ihm auf Friedhöfen zu treffen.

Buchcover: „Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht“ von Tobias Wenzel (Copyright: Knesebeck Verlag)
Intensive Gespräche: Das Buch von Tobias Wenzel

So erfuhr er, dass Jonathan Franzen Friedhöfe nur mit Fernglas betritt, Margaret Atwood nach ihrem Tod in tausend Eissplitter zerbersten möchte, und dass die amerikanische Schriftstellerin Annie Proulx einen Friedhof für Dinosaurier besucht. Und der Ecuadorianer Enrique Adoum, der wenige Wochen nach dem Treffen in Quito starb, erzählte ihm, dass er im Privatgarten eines Freundes beerdigt werden wollte. Toronto, Lima, Tanger, Island, Neuseeland, Seoul, Moskau oder Glasgow – Tobias Wenzel reiste um die ganze Welt, führte Gespräche und machte mit einer alten Plattenkamera Schwarz-Weiß-Aufnahmen. So entstand ein sehr persönliches Buch über Leben und Tod, Liebe und Verlust – und über ganz unterschiedliche Friedhofskulturen.

Friedhof unter Palmen

Cornelia Funke auf dem Hollywood Cemetery in Los Angeles (Copyright: Knesebeck Verlag)
Cornelia Funke auf dem Hollywood Cemetery in Los AngelesBild: Knesebeck/Tobias Wenzel

Ein Grab auf dem Hollywood Cemetery in Los Angeles, auf dem unter Sonne und Palmen zahlreiche prominente Schauspieler begraben liegen? "Das", sagt Deutschlands bekannteste Kinder- und Jugendbuchautorin, als sie von einem der Grabhäuser über den Friedhof blickt, "hätte meinem Mann wahrscheinlich gefallen."

Cornelia Funkes Mann starb vor sieben Jahren, bald nachdem die Familie von Deutschland nach Kalifornien gezogen war. Er wurde eingeäschert, und seine sterblichen Überreste bewahrt Cornelia Funke nun in ihrem Haus in Beverly Hills auf. Der Tod ängstige sie nicht, sagt die Autorin, die der festen Überzeugung ist, dass es so etwas wie Wiedergeburt gebe. Auch der letzte Teil ihrer Tintenherz-Trilogie, "Tintentod", spiegelt, wie der Titel schon sagt, Cornelia Funkes intensive Auseinandersetzung mit dem Tod wider.

"Auf Friedhöfen gibt es kaum Lebende"

Das bedauert die französische Schriftstellerin Benoîte Groult und meidet sie deswegen. Sie bevorzugt Orte, an denen sich Tod und Leben die Waage halten, zum Beispiel das Meer. Deshalb hat sie die Asche ihres Mannes auch dort versenken lassen. "Mein Mann und ich haben so viel gefischt, so viele Fische getötet", sagt sie, "jetzt sind wir an der Reihe, den Fischen als Nahrung zu dienen. Das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit."

Ja zum Leben: Benoîte Groult

Für sein Friedhofsprojekt bestellte die 91-jährige Autorin Tobias Wenzel daher an die bretonische Atlantikküste. Ihr klarer und unsentimentaler Umgang mit dem Tod hat ihn beeindruckt. Dass die Feministin, die mit dem autobiographischen Liebesroman "Salz auf unserer Haut" zur Bestsellerautorin wurde, in ihrem hohen Alter so viel Freude am Leben hat, bewegte ihn dazu, einen Satz von Benoîte Groult als Titel für sein Buch zu wählen: "Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht."

Tobias Wenzels Buch ist bei Knesebeck erschienen (ISBN-13: 978-3868736342). Das Museum für Sepulkralkultur in Kassel und die Kunsthalle in Rostock zeigen im nächsten Jahr dazu eine Ausstellung.