Schatten des großen Steuermanns - Vor 30 Jahren starb Mao
9. September 2006Auch wenn Chinas Kommunistische Partei sehr erfolgreich den Kapitalismus umarmt - Maos Schatten liegt auch heute noch über dem Land. Nicht nur, weil sein Bild überlebensgroß im Zentrum der chinesischen Hauptstadt an den Gründer der Volksrepublik erinnert.
70 Prozent gut - 30 Prozent schlecht. So bewertet die Kommunistische Partei Chinas heute offiziell das Wirken Mao Tsetungs. Nicht eben schmeichelhaft für den Mann, der Jahrzehnte lang an der Spitze der Kommunistischen Partei Chinas stand, der den Bürgerkrieg gegen die Nationalisten unter Tschiang Kaischek angeführt und gewonnen hat, der schließlich am 1. Oktober 1949 die Volkrepublik China ausrief.
Schreckliche Erinnerungen an die Kulturrevolution
70 Prozent gut - 30 Prozent schlecht. Als Mao kurz nach Mitternacht Pekinger Zeit am 9. September 1976 starb, hätte niemand öffentlich ein solches Urteil gewagt. Zehn Jahre Kulturrevolution lagen da hinter der chinesischen Bevölkerung. Jahre totalitären Terrors, dessen einzige Konstante ein beispielloser Personenkult um die zentrale Gestalt des großen Steuermanns war. Ein Kult, der bisweilen absurde Züge annahm, weiß der Bremer Sinologe Daniel Leese: "Da kam es wirklich dazu, dass die Leute sich mittels Mao-Zitaten unterhalten, dass sie jeden morgen zum Appell vor dem Bildnis des großen Vorsitzenden stehen mussten und ähnliches."
Der heute 89-jährige Li Rui hat die Kulturrevolution im Gefängnis verbracht. Noch Ende der 1950er Jahre war er Maos Sekretär und damit dessen engster Mitarbeiter gewesen. Sein Urteil über den großen Steuermann fällt vernichtend aus: "Mao war maßloser als jeder Kaiser. Denn Mao hat verlangt, dass die Menschen ihm auch in ihren Gedanken gehorchen. Das hat vor ihm noch kein Kaiser versucht."
Der "Große Sprung nach vorn" kostete Millionen das Leben
Li Rui war in Ungnade gefallen, als er sich 1959 auf der so genannten Lushan Konferenz offen gegen den von Mao initiierten "Großen Sprung nach vorn" wandte. Mao wollte mit einer gewaltigen Kraftanstrengung in wenigen Jahren den Agrarstaat China auf das Niveau einer Industrienation katapultieren. Das Ergebnis: Die größte Hungersnot der neueren chinesischen Geschichte. Niemand weiß genau, wie viele Menschen starben.
Die Schriftstellerin Jung Chang schätzt sie in ihrer 2004 erschienenen Mao-Biographie auf 38 Millionen. Und sie hat neben bloßem Missmanagement eine weitere Erklärung für die Katastrophe: Mao habe den Tod der Menschen wissentlich in Kauf genommen: "Mao wusste, dass so viele Menschen sterben würden. Er schickte sie in den Tod. Hauptsächlich, weil er die Nahrungsmittel, auf die sie für ihr Überleben angewiesen waren, nach Russland und Osteuropa exportierte. Er kaufte damit technische Gerätschaften für den Bau von Atomwaffen und für die Waffenindustrie." Das Buch von Jung Chang ist das letzte in einer Reihe von Publikationen, die das Bild Maos als Revolutionär, Dichter, Stratege zurechtrücken. Auch wenn kein anderes ihn so radikal als Massenmörder zeichnet.
Enthüllungen des Leibarztes
Ein wichtiges Buch in dieser Reihe ist die Autobiographie von Maos Leibarzt Li Zhisui von 1994. Der Architekt der chinesischen Reformpolitik, Deng Xiaoping, hatte persönlich dafür gesorgt, dass Li in die USA ausreisen konnte. Er wusste sehr wohl, dass Li, kaum dass er amerikanischen Boden unter den Füßen hatte, kübelweise Schmutz über Dengs Erzfeind Mao ausschütten würde.
So können wir heute nachlesen, wie Mao einen wahrhaft kaiserlichen Lebenstil pflegte, während der seinem Volk Askese predigte. Wie er sich junge Frauen zuführen ließ, weil er in taoistischer Tradition an die lebensverlängernde Wirkung von Sex mit ihnen glaubte, während er öffentlich gegen Aberglauben wetterte. Und wir verdanken Li Zhisui die grotesken Einzelheiten der Einbalsamierung von Maos Leiche, die noch heute in seinem Mausoleum inmitten Pekings aufbewahrt wird.
30 Jahre nach Mos Tod: Sehnsucht nach der Vergangenheit
Während Maos Bild als politisches Statement am Tor zum Kaiserpalast hängt, hängt es zugleich millionenfach als Glücksbringer an den Rückspiegeln von Taxifahrern. Überall im offiziell atheistischen China wird Mao als gottähnliche Figur verehrt, als Beschützer und Wächter. Das gilt vor allem für seine Heimatprovinz Hunan. Ein 1995 dank der Spenden von tausenden Bauern gebauter Tempel zu Ehren des Revolutionsführers wurde zwar wieder geschlossen. Aber in Maos Heimatdorf Shaoshan werden vor seiner Bronzestatue Räucherstäbchen entzündet und Gebete gemurmelt.
Gerade die Verlierer im Modernisierungsprozess beginnen, sich die alten Zeiten wieder herbeizusehnen. Auf dem Lande erinnert man sich gerne an die Gesundheitsversorgung durch die "Barfußärzte". Angesichts des wachsenden Wohlstandgefälles wäre es einigen lieber, alle wären wieder gleich arm. Vor allem aber galt die kommunistische Partei unter Mao als frei von Korruption. Heute wird diese als flächendeckend erlebt.
Lange Schatten des Übervaters
Der heutigen Regierung unter Hu Jintao erwächst ein echtes Problem. Wie umgehen mit dem Übervater? Seine Erben haben ihn längst überholt: Hu Jintaos proklamiertes Ziel der Schaffung einer "harmonischen Gesellschaft" könnte nicht weiter entfernt sein vom Geist maoistischer Kampagnen. Der moderne Wirtschaftsgigant China könnte nicht weiter entfernt sein vom China der Volkskommunen.
Warum also kein Schnitt, keine Aufarbeitung der Verbrechen? "Das Problem, mit dem die Kommunistische Partei zu kämpfen hat ist, dass sie nicht noch jemanden in der Hinterhand hat, wie Russland Lenin: Dort konnte man Stalin sozusagen ad acta legen und ihn als Perversion des original Leninschen Gedankenguts herausnehmen", sagt der Sinologe Daniel Leese. "Aber in China ist ein solcher 'Back-up' nicht vorhanden. In China wird Mao mit der kommunistischen Revolution gleichgesetzt. Wenn man sich dieses Symbols entledigen würde, wäre das - überspitzt gesagt - gleichbedeutend mit dem Ende der chinesischen Revolution."