Revolte in Tunesien
7. Januar 2011
Als der Sarg aus dem Auto gehoben wird, gibt es in Sidi Bouzid kein Halten mehr. Es ist der Sarg mit dem Leichnam von Mohamed Bouazizi. Tausende geballte Fäuste strecken sich in die Luft. "Adieu Mohamed", skandiert die Menge. "Wir werden dich rächen!" Ein arbeitsloser Hochschulabgänger, der zum Märtyrer geworden ist, bekommt sein letztes Geleit. "Mohamed hat Obst und Gemüse verkauft, um davon Bücher bezahlen zu können", sagt einer seiner engsten Freunde. "Er wollte doch wieder studieren – und seine Familie unterstützen."
"Schluss mit der Arbeitslosigkeit!"
Mohamed Bouazizi wird nur 26 Jahre alt. In Sidi Bouzid, 250 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis, hatte er sein Geld als Gemüsehändler verdient. Als die Polizei ihm seine Waren wegnimmt und ihn misshandelt, übergießt er sich vor dem Rathaus mit Benzin – und zündet sich an. "Schluss mit der Armut! Schluss mit der Arbeitslosigkeit!", schreit er dabei. Andere folgen seinem Beispiel. Ein junger Mann springt Tage später von einem Hochspannungsmast und stirbt durch einen Stromschlag.
Unter Dampf
Seitdem kommt es überall im Land zu spontanen Demonstrationen. Ein Student sagt, es sei, als fliege ein Dampfkochtopf in die Luft, weil er zu lange unter zu großem Druck stand. Für den Menschenrechtsaktivist Abdelwahab El Hani war das nur eine Frage der Zeit. "Wir haben 13 Prozent Arbeitslosigkeit, aber die Zahlen sind im Landesinneren wesentlich höher, teilweise über 70 Prozent! 80.000 Tunesier haben gerade ihr Studium beendet – diese Leute brauchen Jobs – und das ist eine Riesenherausforderung für die Regierung!"
Eine Herausforderung, an der die Politiker längst gescheitert sind, findet El Hani – allen voran Dauer-Präsident Ben Ali, seit 23 Jahren eisern an der Macht. Ben Alis harter Kurs beschere Tunesien zwar insgesamt ein stabiles Wirtschaftswachstum – nur sei es durch Repression teuer erkauft. Außerdem habe nur eine kleine korrupte Elite etwas davon. Tunesiens blühende Landschaften – das seien nur potemkinsche Dörfer an der Mittelmeerküste.
Drohungen vom Präsidenten
Der Präsident reagiert - auf seine Weise. Besucht den verbrannten Mohamed Bouazizi vor dessen Tod im Krankenhaus, entlässt einen Minister als Bauernopfer. Doch das reicht nicht. Im Fernsehen wendet er sich an sein Volk, das ihm plötzlich nicht mehr gehorchen will. Verspricht vollmundig milliardenschwere Investitionen in den vernachlässigten Provinzen. Und deutet an, wie die Staatsmacht auf weitere Demonstrationen zu reagieren gedenkt. So wie sie es immer getan hat. Die Regierung bedauere die Schäden, die durch die Ereignisse der letzten Wochen entstanden seien, sagt Ben Ali. Und: "Schuld daran sind feindliche Kräfte - Parteien, die die Menschen gegen ihr eigenes Land aufhetzen. Sie werden die Härte unserer Gesetze mit aller Macht zu spüren bekommen." Das Volk hat die Nase voll und das Regime schlägt hart zurück. Mit Gummiknüppeln, scharfer Munition – und Tränengas.
Twitter, Facebook & Co.
Über Blogs und anonyme Profile bei Facebook und Twitter werden immer neue Demonstrationen organisiert. Auch wenn es dabei immer wieder Tote gibt: Selbst regierungstreue Gewerkschafter, Ärzte, Postbeamte trauen sich auf die Straße, Anwälte treten in den Generalstreik. "Ich denke, dass diese Bewegung jetzt erst richtig Fahrt aufnimmt", sagt die Anwältin Rhadia Nasraoui. "Das Regime antwortet nur mit Gewalt, die Sicherheitskräfte machen Razzien in Schulen, Cafés, und natürlich in den Redaktionen von Zeitungen. Wir protestieren gegen diese barbarischen Methoden!"
"Freiheit ist ein Mahnmal der Nation!", ist auf vielen Plakaten zu lesen, oder "Kein Wachstum ohne Freiheit!". Auf einmal ist die Wut gegen die Diktatur stärker als die Angst vor Ben Ali. Doch von "Götterdämmerung" wagt in Tunesien noch keiner offen zu sprechen. Noch nicht.
Autor: Alexander Göbel, Rabat
Redaktion: Christine Harjes