Polizeigewalt in Kairo
2. Februar 2013Im Sekundentakt fallen die Schüsse der Schrotgewehre der paramilitärischen Polizei. Die Stimmung ist angespannt und ernst. Da wird kein Tränengas geschossen - diesmal ist die Munition scharf. Alle wissen, dass sie hier ihr Leben aufs Spiel setzen. Zwei junge Männer tragen ihren verletzten Freund zu einem Krankenwagen. Er hat einige Schrotkugeln in den Oberschenkel bekommen. Doch selbst im Krankenwagen ist Vorsicht angebracht: Ein Fotograf berichtet, dass er vor wenigen Minuten selbst in einem Krankenwagen war, der von Schrotkugeln getroffen wurde.
Draußen sitzt der 27-jährige Hazim auf dem Bordstein. Eine Gasmaske liegt neben ihm: "Sie haben Massen an Tränengas eingesetzt, etwa fünf oder sieben Geschosse auf einmal. Auch mit Schrot schießen sie auf die Leute. Vor etwa zehn Minuten haben sie begonnen, von den Dächern der umliegenden Gebäude auf uns zu schießen." Da oben habe er vier Personen gesehen, die auf sie geschossen hätten.
Angekündigte Gewalt der Polizei
Doch auch die Demonstranten treten aggressiv auf. Im Gegensatz zu den bisherigen Demonstrationen haben sie diesmal auch den Palast selbst angegriffen. Molotowcocktails flogen über die Mauer des Palastes, Bäume fingen Feuer. Die Polizei antwortete zunächst mit Tränengas.
Dann gaben Präsident Mohammed Mursi und die Muslimbruderschaft am Freitagabend (01.02.2013) fast zeitgleich Stellungnahmen ab. Darin forderte der Präsident die Oppositionsparteien auf, die Gewalt der Demonstranten am Präsidentenpalast zu verurteilen. Die Muslimbruderschaft verlangte von den Oppositionsparteien, ihre Anhänger anzuweisen, die Demonstration zu verlassen. Gleichzeitig kündigte der Sprecher Mursis an, dass die Sicherheitskräfte nun mit aller Entschlossenheit und Gewalt staatliches Eigentum schützen werden. Etwas später begannen die Polizisten, mit Schrotmunition auf die Demonstranten zu schießen. Mindestens ein Demonstrant starb.
Oppositionsparteien haben kaum Einfluss auf die Demonstranten
Doch der Einfluss der Oppositionsparteien auf die Demonstranten ist gering, bestätigt auch Hazim: "All' die Politiker und Parteien haben im Grunde keinen Draht zu den Leuten auf den Straßen. Sie glauben, sie haben einen, aber sie haben ihn nicht. Wenn Mohammed al-Baradei oder Hamdien Sabahi den Leuten sagen, 'geht nach Hause!', werden die Leute antworten 'nein!' - weil sie es nicht sind, die die Demonstranten auf die Straße bringen."
Die am Donnerstag zwischen Muslimbrüdern, Salafisten und Oppositionsparteien geschlossene Absichtserklärung wird dadurch weitestgehend bedeutungslos. Darin hatten alle Teilnehmer neben anderen Punkten erklärt, jegliche Form von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung abzulehnen. Doch da die Opposition nur wenig Einfluss auf die Demonstranten hat, kann sie die Straßenproteste kaum steuern. Hinzu kommt, dass Vertreter der Muslimbruderschaft die Oppositionsparteien für die Gewalt verantwortlich machen. Damit dürfte der gerade gestartete Dialog bereits wieder beendet sein. Hazim meint, dass die Demonstranten erst aufhören werden, wenn der Präsident zurücktritt. Sie hätten die Untätigkeit des Präsidenten satt und wollten endlich Verbesserungen sehen: "Vielleicht ist die Gewalt eine Art Reaktion auf Mursis Politik. Er macht, was er will und hört auf niemanden. Er sagt, 'Ägypten ist gut, Ägypten ist schön', so wie er es bei seinem Deutschlandbesuch gemacht hat. Das ist völlig lächerlich."
Polizisten fallen über einen wehrlosen Mann her
Akuter Handlungsbedarf besteht vor allem im Sicherheitssektor. Die Demonstranten bekriegen sich mit der Polizei auch deswegen, weil sie die Sicherheitskräfte hassen. Viele waren in der Vergangenheit der Willkür und Brutalität der Polizei und Geheimdienste ausgesetzt. Und nicht wenige haben in den letzten beiden Jahren mitansehen müssen, wie Freunde durch Polizeigewalt zu Tode kamen.
Das jüngste Beispiel für Unmenschlichkeit in der ägyptischen Polizei war am Donnerstag live im ägyptischen Fernsehen zu betrachten: Ein Einsatztrupp der paramilitärischen Polizei fällt über einen bereits wehrlos am Boden liegenden 48-jährigen Mann her. Sie reißen ihm die Kleider vom Leib, bis er völlig nackt auf dem Asphalt vor dem Präsidentenpalast liegt. Anschließend schlagen sie mit Knüppeln und Fäusten auf ihn ein. Am Ende zerren sie ihn an einem Bein in Richtung eines Polizeitransporters, in dem er schließlich verschwindet.
Es sind derartige Szenen, weswegen die Revolution vor zwei Jahren in Ägypten begonnen hat. Doch bis heute ist der Polizeiapparat nicht reformiert worden. Polizisten, die Straftaten begangen haben, werden zudem so gut wie nie verurteilt. Ohne Einleitung entsprechender Reformen werden die Straßenschlachten nicht aufhören.