Polizeigewalt in Istanbul
16. Juni 2013Mit einem Großeinsatz hat die Polizei am Samstagabend (15.06.2013) den Istanbuler Taksim-Platz und den Gezi-Park gestürmt, in dem Tausende Demonstranten seit über zwei Wochen in einem Protestcamp leben. Erneut kamen Tränengas und Wasserwerfer zum Einsatz.
Kurz zuvor hatte Premierminister Recep Tayyip Erdoğan eine Rede vor Tausenden seiner Anhänger in Ankara gehalten. Den Menschen rund um den Gezi-Park setzte er ein Zeitlimit bis Sonntag: "Entweder sie räumen den Park, oder die Sicherheitskräfte des Landes werden wissen, was zu tun ist", drohte Erdogan den Demonstranten lautstark.
"Einsatz ist gegen die Menschlichkeit"
"Bevor der Polizeieinsatz begann, hat die Polizei die Demonstranten über die Lautsprecher gewarnt. Sie sagten, dass wir etwas Illegales tun und verschwinden sollen. Wir sind aber geblieben, weil das was wir tun nicht illegal ist", so der 24-jährige Demonstrant Ilias Kurtca im DW-Gespräch. Das was die Regierung mache sei illegal. "Es gab so viele Kinder und Mütter im Park weil es Samstagabend war. Plötzlich sind alle losgerannt", so Kurtca. Die Polizei habe die Demonstranten im Gezi-Park eingekesselt, so dass sie nicht fliehen konnten, erzählt er. Auch Grünen-Chefin Claudia Roth, die als Zeichen der Solidarität mit den Aktivisten im Gezi-Park war, zeigte sich entsetzt über das Vorgehen der Polizei.
"Viele haben versucht in umliegende Hotels zu flüchten. Sogar vor die Hotels und vor die Krankenstationen wurden Tränengasbomben geschossen", berichtet Ilias Kurtca. Eine weitere Augenzeugin beklagt Atemnot im Hotel Divan neben dem Park. "Wir spüren das Tränengas sogar im Untergeschoss des Hotels. Das ist gegen die Menschlichkeit", berichtet sie. Auf Twitter haben verzweifelte Demonstranten sogar bereits die Vereinten Nationen um Hilfe gebeten. Andere Augenzeugen berichten von Festnahmen und gewaltsamen Eingreifen der Polizei mit Schlagstöcken. Den Polizeieinsatz erklärt Istanbuls Gouverneur Huseyin Avni Mutlu wie folgt: "Wir haben die Demonstranten darum gebeten ihre Proteste zu beenden. Wir sind erst einmarschiert, nachdem wir die Warnung ausgesprochen haben."
"Alles geplant"
Erst kürzlich hatte Erdoğan noch Dialogbereitschaft gezeigt. Er traf sich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag erstmals mit der "Taksim-Solidaritätsplattform", eine der wichtigsten Repräsentanten der Protestbewegung. Erdoğan versuchte in den vergangenen Tagen wiederholt die Demonstranten zum Gehen zu bewegen. "Ihr Youngsters seid so lange geblieben wie ihr nur konntet. Ihr habt euch mitgeteilt. Eure Nachricht ist angekommen", so Erdoğan. Eine der wichtigsten Forderung der Protestbewegung ist allerdings, die Bestrafung der Verantwortlichen für die Polizeigewalt. Diese sehen die Demonstranten noch nicht erfüllt und kündigten am Samstagnachmittag die Fortsetzung ihres Widerstandes an.
"Erdoğan hat Gesprächsbereitschaft gezeigt, weil er damit seine Gewalt legitimieren möchte. Es war klar, dass er angreifen wird", sagte eine junge Demonstrantin der Deutschen Welle. Die Gespräche und der Polizeieinsatz: Alles sei geplant gewesen, meint sie. Eine weitere Demonstrantin sieht in all den gewalttätigen Auseinandersetzungen etwas Positives. "Die türkische Jugend hat in den vergangenen Jahre nur geschlafen. Während der Regierungszeit Erdoğan gab es viele Dinge die uns gestört haben, aber niemand hat was gesagt", so eine Demonstrantin zur Deutschen Welle. Ab sofort werde das türkische Volk schon bei einer Kleinigkeit wieder auf die Straße gehen, damit so etwas wie heute nicht wieder vorkomme.
"Bereit zu sterben"
Für Sonntag hat Erdoğan eine Kundgebung in Istanbul angekündigt. Um 18 Uhr Abends will er vor Tausenden seiner Anhänger im eher islamisch-konservativ geprägten Stadtteil Kazlicesme seine Rede halten. Überall in der Istanbuler Innenstadt sind bereits Werbeplakate zu sehen, mit denen Erdoğan seine Wählerschaft zum Demonstrieren aufruft. Die Menschen in Istanbul sind wütend und erwarten große Ausschreitungen aufgrund seines geplanten Besuchs. "Es wird ein Großereignis werden. Wir Demonstranten werden alle zum Taksim-Platz marschieren. Es wird sicher viele Verletzte geben, wenn nicht sogar Tote. Sogar Demonstranten aus anderen türkischen Städten reisen an, um uns zu unterstützen. Wir werden in zwei Hälften geteilt: In Erdoğans Teil und in unseren Teil", so eine Frau.
Ein Demonstrant betont, dass er hier sogar sterben werde, wenn es sein muss. "Das ist mir total egal", so der 50-jährige. Ein weiterer Demonstrant kann über Erdoğans Besuch nur lachen. Er benehme sich wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen habe. "Dieses Theater kauft ihm doch keiner ab. Er wird einen Teil seiner Anhängerschaft für ihr Kommen bezahlen. Keiner glaubt ihm mehr", betont der Demonstrant. Sein Besuch sei der Grund für die Polizeiaktion, sagt eine junge Demonstrantin. "So kann er auf die Bühne gehen ohne den Druck der Demonstranten auf dem Taksim-Platz zu verspüren", sagt sie. Doch von Seiten der Protestierenden sei geplant, dass sie alle gemeinsam aufmarschieren.