Polen: Film heizt Missbrauchsdebatte an
28. September 2018"Kontrovers" wurde der Film schon genannt, lange bevor er in die Kinos kam. Nun ist er da, in manchen Kinos wird "Kler" sogar 20 Mal am Tag gezeigt, denn die Nachfrage ist groß. Anderseits wollen ihn einige konservativ regierte Gemeinden in ihren Kinos überhaupt nicht sehen. Eine bessere Werbung konnte sich Regisseur Wojciech Smarzowski kaum vorstellen.
Kinokarten bekommt nur, wer Glück hat. Und wer welche ergattert, gibt sich auch mit schlechteren Plätzen zufrieden. Denn es handelt sich aktuell um eines der heißesten Themen, die in Polen diskutiert werden: der Umgang der Geistlichen mit Geld, Macht und Sexualität. Auch das Thema Pädophilie wird in dem Film bildstark angegangen. An dieser Debatte wollen viele teilnehmen, besonders weil sie in einem Land geführt wird, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung regelmäßig Sonntagsgottesdienste besucht und über 90 Prozent der Menschen katholisch getauft sind.
Die ersten Reaktionen sind geteilt: Der Verband katholischer Journalisten hält den Film für "antikatholisch" und "antipolnisch", ein Rezensent der liberal-katholischen Zeitschrift "Wiez" für "oberflächlich" und "klischeehaft". Viele andere sehen in dem Film jedoch einen Tabubruch, der möglicherweise eine längst fällige Aufarbeitung anstoßen kann.
Ein kleines Hotel für Jungs
"Ohne Journalisten oder Filmemacher bliebe das Thema Pädophilie völlig verschwiegen", bestätigt Piotr Krysiak, der 2017 das Buch "Wyspa Ślepców" (deutsch: "Die Insel der Blinden") veröffentlicht hat, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Sechs Mal ist er für seine Recherchen in die Dominikanische Republik geflogen. Dort lernte er den polnischen Priester Wojciech G. kennen. Ein netter, etwas rundlicher Mann, der ihn warmherzig aufnahm und über sein Leben in der Karibik erzählte. Krysiak war auf der Suche nach Polen, die auf der Insel leben. Seltsam erschien ihm nur damals ein kleines Hotel für Jungs, das der Priester in seinem Haus führte. "Auch ein Internat für Mädchen gab es dort und wahrscheinlich wäre ich darauf nicht aufmerksam geworden, wenn Wojciech nicht gesagt hätte : 'Zu den Mädchen gehe ich nicht hin, Du weißt schon'."
Wojciech G. sitzt seit über vier Jahren im Gefängnis. Er hat mehrere Jungen missbraucht, Krysiak sprach mit zwei seiner Opfer. "Auch in Marki, in der Nähe von Warschau, hat er Kinder missbraucht. Niemand hat ihnen geglaubt. Schließlich ging es um einen Priester, eine Vertrauensperson", so Krysiak.
Sein Buch wurde kein Bestseller, trotzdem entschied sich Krysiak, von jedem verkauften Exemplar ein Zloty an die Opfer von Wojciech G. zu zahlen. Keines der Kinder bekam bis heute eine Entschädigung. Wojciech G. sitzt in Haft und hat kein Geld, und sein Orden fühlt sich dafür nicht zuständig. Schließlich wurde ein Priester verurteilt und nicht der ganze Orden. "Der Junge, den ich gut kenne, sollte rund 40.000 Zloty bekommen (weniger als 10.000 Euro). Er wurde über vier Jahre missbraucht", sagt Krysiak.
Steter Tropfen höhlt den Stein
Offizielle Zahlen über Missbrauch in der katholischen Kirche Polens gibt es nicht. Laut polnischen Medien wurden 27 katholische Priester in den Jahren 2002-2012 verurteilt. Die Stiftung "Nie lękajcie się" (deutsch: "Fürchtet Euch nicht") spricht aber von deutlich mehr Urteilen, die nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Die Stiftung hilft derzeit 300 Menschen, die nach ihren Angaben Opfer von Missbrauch durch Geistliche geworden sind.
Anfangs sei es schwer gewesen, Psychologen zu finden, wenn Priester im Spiel waren, sagte Marek Lisiński, ein Mitarbeiter der Gruppe dem Portal Onet: "Bisher wurde in Polen keinem Missbrauchsopfer eine gerechte Wiedergutmachung verschafft. In einem Fall wurde ein Vergleich geschlossen und Geld gezahlt, aber ausdrücklich im Rahmen 'christlicher Güte' und nicht etwa, weil der Täter dem Opfer Leid und Schmerz zugefügt hatte", so Lisiński.
Doch hier gibt es Bewegung, denn vor wenigen Tagen verurteilte ein polnisches Gericht erstmals eine Ordensgemeinschaft - und nicht nur einen einzelnen Priester - zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von umgerechnet 250.000 Euro.
Das Thema bewegt die polnische Öffentlichkeit sehr. In einer in dieser Woche von der Tageszeitung "Rzeczpospolita" veröffentlichten Umfrage erklären vier Fünftel der Befragten die Pädophilie in der Kirche zum Problem. Knapp drei Viertel fordern volle Transparenz bei der Aufklärung. Regisseur Smarzowski glaubt jedoch nicht, dass die Kirche sich von allein den Vorwürfen wirklich stellt. "Die Beispiele aus Europa zeigen, dass die Kirche ohne Druck des Staates, ohne weltliche Kommissionen, ihre Opfer nicht entschädigt", sagt der Regisseur.
Niemand habe den Mut gefunden, sich eingehend mit den Missbrauchsfällen in der Karibik zu befassen, klagte der Regisseur bei früherer Gelegenheit. Einspruch, schrieb ihm damals Buchautor Krysiak. Es gebe doch sein Buch über den Missbrauch in der Dominikanischen Republik. Für Smarzowski scheint die Lektüre eine Offenbarung gewesen zu sein. Er hoffe, einmal einen Film darüber zu drehen. Und er schrieb in einer Widmung in Krysiaks Buch: "Steter Tropfen höhlt den Stein." Krysiak geht einen Schritt weiter: "Smarzowskis Film ist kein Tropfen. Es ist ein Keil, der den Stein spaltet."
"Polen steht noch am Anfang"
Möglicherweise hat er Recht. Neulich kündigte die polnische Bischofskonferenz einen Untersuchungsbericht an. Schon im November will die Kirche Zahlen veröffentlichen über das Ausmaß des Missbrauchs, und künftig sollen alle Diözesen Präventionsprogramme umsetzen. "Es geht darum, dass sowohl Priester wie Laien sensibilisiert werden, Kinder und Jugendliche zu schützen, und mit dem Leid der Opfer umzugehen", so Polens Primas, Erzbischof Wojciech Polak zum Abschluss der Vollversammlung der Bischofskonferenz diese Woche.
"Wenn wir uns mit anderen Ländern vergleichen, so muss ich zugeben, dass Polen erst am Anfang steht. Wenn ich mir angucke, was zum Beispiel in Deutschland erreicht wurde, weiß ich, dass es noch ein sehr langer Weg sein wird", meint Artur Sporniak, Redakteur der katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny". Und fügt hinzu: "Ich bin vorsichtig optimistisch".