Passaus kleines Flüchtlingsmärchen
27. Dezember 2015Passau ist einer jener Orte in Deutschland, die besonders hübsch auf Postkarten aussehen: kopfsteingepflasterte Gassen, mediterranes Flair, ein barocker Dom. Im Sommer flanieren die Touristen entlang der Uferpromenaden von Donau und Inn. Doch dieses Frühjahr bekam die Bilderbuchidylle unerwartete Besucher: Jeden Tag in den frühen Morgenstunden erreichten völlig erschöpfte Menschen die Stadt. Mütter mit Babys auf dem Arm, Familienväter, die sich bemühten, wie normale Spaziergänger auszusehen. Schleuser ließen die Flüchtlinge in großen Zahlen kurz hinter der Grenze an der Autobahn raus.
Passau liegt im Südosten Bayerns. Vom Ortskern bis zur Grenze nach Österreich ist es nur eine halbe Stunde zu Fuß. Für etliche Flüchtlinge, die über die Balkanroute nach Deutschland wollten, endete die Odyssee in Passau. Im Frühjahr registrierte die Bundespolizei täglich etwa 600 Flüchtlinge, im Herbst sind es an manchen Tagen bis zu 10.000. Passau selbst hat gerade einmal 50.000 Einwohner.
So mancher Einwohner spricht deshalb vom "Lampedusa Deutschlands", in Anlehnung an die italienische Flüchtlingsinsel. Über keinen anderen Grenzabschnitt kommen 2015 so viele Flüchtlinge nach Deutschland. Doch trotz der enormen Belastung lautet der Tenor in Passau: Wir schaffen das.
Landauf, landab sprechen Politiker 2015 angesichts der enormen Flüchtlingszahlen von Chaos. Medien berichten über einen Ansturm und überlastete Helfer. Der Passauer Oberbürgermeister Jürgen Dupper (SPD) räumt ein, dass Passau in diesem Jahr eine "spannende und sportliche Situation erlebt, die viel Engagement abverlangt". Aber seine Zwischenbilanz fällt eindeutig aus: "Im Großen und Ganzen läuft es gut."
Passau ist für die Flüchtlinge eine Zwischenstation. Eine Verschnaufpause auf dem Weiterweg in andere Bundesländer. In Passau werden sie erstmals registriert, bekommen etwas zu essen und zu trinken. Es gibt Nächte, da greift die Polizei jede Nacht Flüchtlinge am Straßenrand auf und bringt sie in die Notunterkünfte. Die meisten davon sind Hallen, in denen normalerweise Studenten ihre Prüfungen schreiben und Konzerte stattfinden.
Polizisten im Dauereinsatz
Für die Registrierung der Flüchtlinge an den deutschen Grenzen sind Bundespolizisten zuständig. Im September und Oktober, nach Merkels "Wir-schaffen-das"-Signal, kommen auch sie an ihre Grenzen: 13-Stunden-Schichten, sieben Tage hintereinander. Dennoch betont Bürgermeister Dupper, habe es zu keinem Zeitpunkt Chaos in der Stadt gegeben. Auch nicht als Ende Oktober die Flüchtlinge ohne Absprache in Bussen von den österreichischen Behörden an die Grenze geleitet wurden.
Ulrich Gönczi, ein 23-jähriger Polizist, arbeitet seit September in Passau. Er verteilt Essen an Flüchtlinge, sorgt für Ordnung, manchmal ist er einfach nur zum Reden da. Er sagt, es sei "schon sehr anstrengend" und teilweise unorganisiert. Viele Flüchtlinge sprechen ihn verängstigt auf Englisch an: "Don't beat me" (bitte nicht schlagen). Gönczi versucht sie dann zu beruhigen und erzählt ihnen, dass die deutsche Polizei keine Schlagstöcke und Wasserwerfer gegen sie einsetzt.
Für Gönczi und seine Kollegen kommen mit den Flüchtlingen auch die Krisen der Welt in ihren Alltag. Viele Geschichten könne man nicht abends mit der Uniform ablegen. Da ist der Mann, der auf der Flucht angeschossen wurde und mit offenen Wunden ankommt. Oder jenes Elternpaar, das dabei zusehen musste, wie zwei seiner Kinder im Mittelmeer ertranken. "Das ist man einfach nur Mensch. So was geht einem sehr nah", sagt Gönczi sichtlich bewegt. Vielen Kollegen geht es ähnlich. Nicht nur die vielen Überstunden, auch die vielen menschlichen Tragödien belasten.
Pragmatismus statt Gejammere
Dass eine kleine Stadt wie Passau mit einer so großen Zahl an Flüchtlingen zurechtkommt, kann durchaus verwundern. In anderen Städten an der Grenze zu Österreich fallen die Reaktionen weniger gelassen aus. In Freilassing schreibt Bürgermeister Josef Flatscher einen Brandbrief an die Bundeskanzlerin mit dem Tenor: Es reicht. Weil in Freilassing Tausende Flüchtlinge die Grenze überqueren, droht die Stimmung zu kippen.
Passaus Oberbürgermeister Dupper hingegen ist kein Alarmist, sondern ein Pragmatiker: "Jammern hilft nicht", sagt er. Von Obergrenzen hält er nichts. "Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass immer mehr Menschen zu uns kommen. Da sollten wir einfach unsere Arbeit machen."
Bis jetzt hat in Passau kein Asylbewerberheim gebrannt. Laut Polizei gab es nicht mehr Einbrüche als im Jahr zuvor. Doch es gibt auch Passauer, die Fragen haben und sich Sorgen machen angesichts der vielen Neuankömmlinge: Was passiert mit meinem Arbeitsplatz, reicht der Wohnraum für alle aus, was wird aus dem Bildungssystem? Dupper hält diese Gedanken für legitim. Definitive Antworten hat auch er nicht parat. Er weiß nur: Es muss den Kommunen schnell gelingen, die Menschen gut zu integrieren.
Krisenerprobtes Passau
Die Zuversicht des Oberbürgermeisters ist offensichtlich ansteckend. Hunderte, wenn nicht Tausende Bürger helfen in Passau freiwillig. Es herrsche ein "wunderbares Einvernehmen" zwischen Polizei, Stadt und den vielen Ehrenamtlichen. Einer davon ist Ahmed Sarbani. Der Pakistani kam vor Jahren selbst als Flüchtling nach Passau. Jetzt übersetzt er für andere Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran und Bangladesch. Er sagt, dass es natürlich auch in Passau unfreundliche Menschen gibt. Aber auch er beschreibt die Stimmung insgesamt als äußerst offen.
Zweifel, dass Passau die Flüchtlingssituation nicht schaffen könnte, hat Oberbürgermeister Dupper selbst in "ganz sportlichen Nächten" nicht. Aber wenn er die Geflüchteten mit ihrem "Rucksack voller riesengroßer Hoffnung" sieht, fragt er sich schon: Hoffentlich können wir diese Hoffnungen auch erfüllen.
Zumindest für die akute Nothilfe ist er optimistisch. "Wir Passauer haben Übung darin, Herausforderungen zu meistern", so Dupper. Passau ist krisenerfahren: Beim Hochwasser 2013 versank die ganze Altstadt unter Wasser. Vielleicht sei das auch der Schlüssel, weshalb Passau die Flüchtlingskrise so gut meistere, so Dupper.