Judenhass in Frankreich wächst
19. Februar 2019Als Maurice Rouffignat vor einigen Tagen - wieder einmal - auf einem geschändeten jüdischen Friedhof stand, fühlte es sich für ihn an wie eine Reise in eine dunkle, längst überwunden geglaubte Vergangenheit. "Ich habe den Zweiten Weltkrieg als Kind miterlebt, das Leid, die Deportationen", erinnert sich der 84-jährige Einwohner von Sainte-Geneviève-des-Bois, einem kleinen Städtchen vor den Toren von Paris.
Rouffignat selbst ist kein Jude, doch die zunehmenden antisemitischen Vorfälle in seinem Heimatland machen ihn wütend: "Wir können diese Dinge nicht einfach so hinnehmen, diesen zunehmenden Rassismus und diese Abgestumpftheit."
Ganz in der Nähe, unterhalb eines Bahndamms, hatten kurz zuvor einige Lokalpolitiker flammende Reden gegen Intoleranz gehalten und Kränze rund um das Porträt eines lächelnden jungen Mannes gelegt. An dieser Stelle hatte eine Gruppe muslimischer Einwanderer den 23-jährigen Ilan Halimi einfach abgeladen, nachdem sie ihn zuvor über Wochen gefoltert und misshandelt hatten. Weil er jüdischer Herkunft war, glaubten seine Entführer, ein hohes Lösegeld für ihn erpressen zu können. Doch die Familie konnte nicht zahlen. Halimi erlag seinen schweren Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus.
Das ist nun 13 Jahre her. Seitdem erlebt Frankreich eine Welle antisemitischer Übergriffe: darunter die Schießerei in einer jüdischen Schule in Toulouse 2012 und der Angriff islamistischer Terroristen auf einen jüdischen Supermarkt in Paris im Jahr 2015. 2017 wurde eine 65-jährige pensionierte jüdische Ärztin in Paris ermordet, ein Jahr später die 85-jährige Holocaust-Überlebende Mireille Knoll. Offiziellen Zahlen der französischen Regierung zufolge hat die Zahl antisemitischer Straftaten 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 74 Prozent zugenommen.
"Die Regierung muss mehr dagegen tun," sagt Rabbi Michel Serfaty, Vorsitzender des nationalen jüdisch-muslimischen Freundschaftsverbandes. "Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht nur den Bürgern und den Gemeinden überlassen werden. Er muss zur nationalen Frage erhoben werden."
Dies scheint nun auch die französische Regierung erkannt zu haben: Präsident Emmanuel Macron will noch am Abend gemeinsam mit den Spitzen des Parlaments an der Pariser Holocaust-Gedenkstätte zusammentreffen. Unter dem Motto "Es reicht" ("Ça suffit!") sind im Anschluss in Paris und anderen Städten Kundgebungen gegen Antisemitismus geplant.
Antisemitismus nimmt in ganz Europa zu
Denn mitterweile vergeht kaum eine Woche in Frankreich ohne antisemitische Übergriffe: Anfang Februar wurden mehrere Plakate mit Bildern der beliebten Politikerin Simone Veil, einer weiteren Holocaust-Überlebenden, mit Hakenkreuzen beschmiert. Veil war bereits 2017 verstorben. In der Nacht zu Dienstag beschmierten im elsässischen Quatzenheim Unbekannte mehr als 80 jüdische Grabsteine mit Hakenkreuzen. In diesem Monat sprayten Randalierer das Wort "Juden" auf das Schaufenster einer jüdischen Bäckerei in Paris, andere zerstörten Bäume an der Gedenkstätte für Ilan Halimi.
Am vergangenen Mittwoch wurden im Rahmen einer kleinen Zeremonie an selber Stelle in Sainte-Geneviève-des-Bois neue Bäume gepflanzt. Doch viele Anwesende glauben nicht, dass der Schaden so einfach zu reparieren ist. "Wir versuchen, die Gewalt kleinzureden", kritisiert der Anwohner Jean-Luc Mazet. "Aber das stachelt die Täter nur noch mehr an."
Frankreich ist nicht das einzige europäische Land, das einen Anstieg antisemitischer Gewalttaten verzeichnet. Auch in Großbritannien und Deutschland steigen die Zahlen rasant an. Im Dezember 2018 kam eine Studie im Auftrag der EU zu dem Ergebnis, dass hunderte von Juden 2018 in einem Dutzend EU-Mitgliedstaaten Opfer verbaler oder physischer Angriffe geworden sind. Eine CNN-Studie kam zu dem Ergebnis, dass alte Ressentiments und Vorurteile – etwa, dass "Juden zu viel Einfluss auf Medien, Finanzmärkte und die Politik" hätten – in Europa noch immer weit verbreitet seien.
Frankreich beherbergt die größte jüdische Gemeinde in Westeuropa. Von den mehr als 500.000 hier lebenden Juden gaben rund 95 Prozent an, dass sie den Antisemitismus im Land für ein großes oder sehr großes Problem hielten. Einige stimmten bereits mit den Füßen ab – mehrere tausend französische Juden emigrierten in den vergangenen Jahren nach Israel.
Ein Land, zwei Gründe für Antisemitismus
Heute hat Frankreich Experten zufolge mit Antisemitismus aus zwei Richtungen zu kämpfen. Zum einen breche er sich Bahn bei den muslimischen, aus arabischen und afrikanischen Ländern stammenden Einwanderern der zweiten Generation. Zum anderen kämen alte antisemitische Feindbilder auch im Rahmen der regierungskritischen Gelbwesten-Proteste wieder zum Vorschein.
Erst am vergangenen Wochenende war der Philosoph Alain Finkielkraut am Rande von Protesten der Gelbwesten beschimpft worden. Vulgäre antisemitische Ausfälle richten sich aber auch immer wieder gegen Präsident Macron, einen früheren Banker des Hauses Rothschild. "Diese Leute haben nur auf einen Anlass gewartet", sagt Rabbi Michel Serfaty. "Es waren die Gelbwesten, die ihnen den Impuls verschafften, ihrem antisemitischen Gedankengut freien Lauf zu lassen."
Auch Jean Petaux, Politikwissenschaftler an der Sciences-Po von Bordeaux, macht die Gelbwesten mitverantwortlich für die Zunahme von Hassdelikten – insbesondere im Internet, aus dem die Bewegung ihre Stärke zieht. "Sie haben sich nie deutlich vom Antisemitismus distanziert," sagt Petaux, "und haben deshalb eine klare Mitschuld für das jetzige politische Klima."
Andere Experten äußern sich vorsichtiger und weisen darauf hin, dass die Zahl antisemitischer Vorfälle bereits vor dem Auftauchen der Gelbwesten- Bewegung angestiegen war. Eine klare Verantwortung ist auch deshalb schwer zu ziehen, weil es in Frankreich eine Informationssperre zu offiziellen Statistiken gibt, die aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten verübt wurden, sagt der bekannte französische Rechtsextremismusforscher Jean-Yves Camus. "Der traditionelle französische Antisemitismus ist immer noch alltäglich, aber die schwersten anti-jüdischen Angriffe wurden nicht von der extremen Rechten verübt, sondern von Menschen mit Migrationshintergrund."
Auf der Suche nach Auswegen
Das Wiederaufflammen antisemitischer Gewalt besorgt viele auf der Gedenkveranstaltung für Ilan Halimi. Sie diskutieren über mögliche Auswege aus der Situation. "Ich bin hier, um meinen Protest zu zeigen, um zu zeigen, dass wir Juden immer noch hier sind", sagt der 19-jährige Jules Laloum, der, mit einer blauen Kippa auf dem Kopf, gerade eine Kerze neben Halimis Portrait anzündet. Für ihn müsse vor allem der Hass in den sozialen Netzwerken stärker bekämpft werden. " Aber das ist ein sehr schweres Unterfangen."
Rabbi Serfaty kämpft schon seit Jahren gegen den Antisemitismus in der Gesellschaft – auf der Straße, wo er gezielt in soziale Brennpunkte mit hohem Einwandereranteil geht und dabei auch von muslimischen Freiwilligen unterstützt wird. Aber auch er gibt zu, dass seine Arbeit oft mühsam und frustrierend ist.
Vor kurzem sprach er mit einer Religionslehrerin, deren Schüler extrem ausfällig reagierten, als sie das Judentum zur Sprache brachte. "Sie war völlig ratlos, was sie machen sollte, denn solch einen Abgrund an Unkenntnis und Vorurteilen hatte sie noch nie erlebt", erzählt Serfaty. "Wir müssen unsere nächste Generation zu respektvollen, toleranten Bürgern erziehen, die ganz Frankreich lieben. Vorurteile dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben."