Frankreich und das Gift des Antisemitismus
12. Februar 2019Bei einer Gedenkzeremonie im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois gedachte neben anderen auch Innenminister Christophe Castaner des Juden Ilan Halimi, der 2006 verschleppt und drei Wochen lang von jungen Muslimen aus seiner Nachbarschaft gefoltert worden war. Der 23-Jährige hatte die Tortur nicht überlebt. Seitdem ist die Stimmung für Juden in Frankreich nicht besser geworden: Noch nie hat es in der Fünften Republik mehr antisemitische Übergriffe gegeben.
"Der Antisemitismus breitet sich aus wie ein Gift", warnte Castaner. Regierungschef Édouard Philippe sagte in der Nationalversammlung: "Diese Taten sind abscheuerregend." Beide bezogen sich auch auf die Vorfälle vom vergangenen Wochenende. So war ein Ladenfenster in der Pariser Innenstadt mit dem deutschen Wort "Juden" beschmiert worden. Briefkästen mit einem Porträt der verstorbenen früheren Ministerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil wurden im 13. Stadtbezirk mit Hakenkreuzen übermalt. Und in Sainte-Geneviève-des-Bois wurde das Denkmal zu Ehren von Ilan Halimi geschändet. Drei Vorfälle, die von der französischen Öffentlichkeit registriert wurden. Im vergangenen Jahr gab es insgesamt 541 antisemitische Übergriffe - 74 Prozent mehr als noch 2017.
"Gelbwesten" und "islamistische Radikalisierung"
Für landesweite Empörung sorgte im vergangenen Jahr die Ermordung der 85-jährigen Jüdin Mireille Knoll. Ihre von Messerstichen übersäte und teilweise verbrannte Leiche wurde in ihrer Pariser Sozialwohnung gefunden. Tatverdächtig ist unter anderem ein muslimischer Nachbar, dem die Ermittler Antisemitismus vorwerfen.
Einflussreiche Politiker, Künstler und Intellektuelle prangerten daraufhin eine "lautlose ethnische Säuberung" an, die auf eine "islamistische Radikalisierung" zurückzuführen sei. Der jüdische Dachverband (Crif) sieht den Hass jedoch tief in der französischen Gesellschaft verankert. Die Zahlen spiegelten nur teilweise den "alltäglichen Antisemitismus" wider, mit dem viele Gemeindemitglieder konfrontiert seien, sagte Crif-Präsident Francis Kalifat, und forderte einen "Ruck" durch die Gesellschaft.
In Frankreich leben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Muslime, so viele wie in keinem anderem Land der EU. Die Zahl der Juden wird auf gut eine halbe Million geschätzt.
Regierungssprecher Benjamin Griveaux macht die Protestbewegung der "Gelbwesten" mit für den Anstieg der Übergriffe verantwortlich. Am Rande ihrer Kundgebungen tauchten oft "absolut inakzeptable antisemitische Schmierereien" auf, sagte er.
Wenn sich "der Hass auf Juden mit dem Hass auf die Demokratie paart"
Es gibt auch antisemitische Schmähungen gegen Präsident Emmanuel Macron. Auf einem Garagentor im Zentrum der Hauptstadt wurde Macron als "Judenhure" bezeichnet. Eine ähnliche Inschrift wurde am Sitz der Zeitung "Le Monde" in einem Außenbezirk gefunden. Der Präsident arbeitete früher als Investmentbanker bei Rothschild, dem Bankhaus einer jüdischen Dynastie.
Der Antisemitismus-Beauftragte der französischen Regierung, Frédéric Potier, kündigte juristische Schritte an. Er warnte davor, dass sich "der Hass auf Juden mit dem Hass auf die Demokratie paart". Potier und der deutsche Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein hatten im Dezember bei einem Treffen in Paris eine enge Zusammenarbeit und eine Initiative auf EU-Ebene vereinbart.
In Sainte-Geneviève-des-Bois waren zwei Bäume gefällt worden, die an den zu Tode gefolterten Ilan Halimi erinnern sollten. Innenminister Castaner kündigte ein hartes Vorgehen gegen Antisemitismus an. Und er versprach: "Wir werden noch größere, noch schönere Bäume pflanzen."
rb/qu (afp, dpa, kna)