Die Eröffnungszeremonie und der wahre olympische Geist
2. August 2016DW: Die modernen Olympischen Spiele wurden von den alten Griechen inspiriert. Inwiefern gilt dies auch für die moderne Eröffnungszeremonie?
Prof. Dr. Manfred Lämmer: So gut wie gar nicht. Über eine Eröffnungszeremonie der antiken Olympischen Spiele ist nichts bekannt. Es gibt nur einige Vorgänge, die den eigentlichen Wettkämpfen vorgeschaltet waren, die sich aus ihrer Einbettung in den Zeus-Kult ergaben.
Die Athleten in der Antike hielten sich vorher vier Wochen in der Veranstalterstadt Elis auf - ungefähr 40 Kilometer von Olympia entfernt - und hatten dort trainiert und ihre endgültige Zulassung durch die olympischen Behörden bekommen. Dann zogen sie mit dem Kultpersonal, den Kampfrichtern und den anderen Offiziellen nach Olympia, wo sie bei ihrer Ankunft als einzige wirklich große Zeremonie den olympischen Eid ablegten. Sie schworen, dass alle Angaben zur Person richtig seien und dass sie sich bei den Wettkämpfen an die olympischen Regeln halten würden. Die Kampfrichter mussten ebenfalls schwören, dass sie alle Entscheidungen unparteiisch fällen und Vertraulichkeit bewahren würden.
Angesichts der aktuellen Dopingdiskussion mit Russland ist es interessant, dass solche sportlichen Werte aus der Antike übertragen wurden.
Das ist natürlich bedeutsam. Zunächst einmal mussten die antiken Wettkämpfer, zumindest in der klassischen Zeit, auch blutsmäßig von griechischen Eltern abstammen. Die antiken olympischen Spiele waren keine internationalen Spiele, sondern strikt national. Daher musste man seine Herkunft bei einem Opfer an Zeus beeiden, weil das sonst sehr schwer zu kontrollieren war.
Das Zweite war, dass man bei Zeus schwören musste, dass man sich an die Regeln hält. Gleichzeitig unterstellte man sich dann der Sanktion des Gottes, wenn man dagegen verstieß. Diese Sanktionen wurden im Namen des Göttervaters von dem Olympischen Rat - das war so eine Art IOC - ausgesprochen. Wenn die Athleten durch den gewölbten Eingang in das Stadion einzogen, sahen sie auf der linken Seite eine große Anzahl von Zeus-Statuen. Diese Statuen mussten Athleten errichten, die gegen die olympischen Regeln verstoßen hatten, entweder durch Bestechung oder Kampfabsprache. Wenn man das heute machen würde, würde das bedeuten, dass diejenigen, die die großen Doping- und Betrugsfälle verursacht haben, bei der Eröffnungsfeier noch einmal namentlich in Erinnerung gerufen würden.
Sie sagen, dass die antiken Spiele national waren, wobei die modernen Spiele ein Zeichen für internationale Verständigung setzen. Ich denke an das Jahr 1920, in dem die olympische Fahne als Friedenssymbol nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt wurde. Ist die Eröffnungszeremonie ein Ausdruck der zeitgenössischen politischen Lage?
Die politische Lage spiegelt sich immer in der Eröffnungsfeier wider - vor allem im protokollarischen Teil. Die Fahne mit den fünf olympischen Ringen ist zwar 1920 zum ersten Mal bei Olympischen Spielen gehisst worden, aber sie wurde schon 1914 beim Olympischen Kongress in Paris gezeigt. Wenn die Spiele 1916 in Berlin nicht ausgefallen wären, hätte sie die Eröffnungsfeier dort geziert.
Kommen wir zu Berlin im Jahr 1936, in dem Hitler den berühmten Fackellauf eingeführt hat. Welches olympische Erbe hat uns Hitler hinterlassen?
Da muss ich Wasser in den Wein gießen. Es waren keine Nazi-Spiele; es waren Spiele unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Spiele 1936 haben eine Unmenge von Mythen hervorgebracht, unter anderem auch die Legende, dass der Fackellauf eine Erfindung des Führers gewesen sei. Bereits 1928 und 1932 hatte ein olympisches Feuer als Symbol der Reinheit und des Strebens nach Vervollkommnung in den Stadien von Amsterdam und Los Angeles gebrannt. 1936 ist lediglich ein neues Element der Inszenierung hinzugekommen.
Carl Diem, der Generalsekretär der Spiele, ein absoluter Verehrer der Antike, hatte die Idee, dieses Feuer nicht einfach mit einem Streichholz zu entzünden, sondern es symbolisch aus der Antike hinüber in die Moderne zu holen, um damit die Olympische Idee als eine ewige Gabe griechischen Geistes zu apostrophieren. Derjenige, der dann den Plan ausgearbeitet hat, war ausgerechnet der jüdische Archäologe Alfred Schiff, der bei Diem im Organisationskomitee arbeitete.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg muss man davon ausgehen, dass die Sensibilität gegenüber dem, was 1936 geschehen war, bei den Siegermächten enorm groß war. Als London 1948 die Spiele veranstaltete, haben die Engländer damals diese Symbolik des Fackellaufs als außerordentlich treffend und schön empfunden, sodass sie überhaupt nicht auf den Gedanken kamen, diesen nicht durchzuführen. Carl Diem wurde sogar von den Organisatoren als Berater hinzugezogen. Er ist 1948 als einziger Deutscher zu den Olympischen Spielen in London eingeladen worden.
Die Idee eines Fackellaufes ist nicht erst 1948 in London erneut verwirklicht worden, sondern bereits 1944, und zwar ausgerechnet in Palästina. Ein Schüler von Carl Diem, Ernst Simon, und seine Mitstreiter haben den Fackellauf eingeführt, der heute bei der Eröffnung der jüdischen Makkabia von den Gräbern der Makkabäer bis in das Makkabi-Stadion führt. Selbst in einem Land, das wahrlich keinen deutschen Vorbildern gefolgt wäre, ist dieser Fackellauf als nicht politisch belastet empfunden worden.
Das IOC gibt ein langes Protokoll für die Eröffnungszeremonie vor. Was genau soll damit an die Zuschauer kommuniziert werden?
Man muss zurückgehen auf die Konzeption von Pierre de Coubertin [Anm. der Red: Gründer des IOC und Mitgründer der Olympischen Spiele]. Er wollte mit den Olympischen Spielen und seinem Diktum "All games, all nations" keine Ansammlung von Weltmeisterschaften, vielmehr hat er ausdrücklich immer wieder betont, dass er ein olympisches Fest mit Symbolen, Zeremonien und feierlicher Gestaltung wolle. Solange er die Verantwortung trug, hatte er beharrlich daraufhin gewirkt, dass dieser Charakter der Spiele ständig erweitert wurde. Dem dienten zum Beispiel auch die Kunstwettbewerbe, die er 1912 eingeführt hatte, die olympische Fahne mit den Ringen, das olympische Motto "Citius-Altius-Fortius" (schneller-höher-stärker) und die olympische Hymne.
Was die Olympischen Spiele von anderen großen Sportwettkämpfen unterscheidet, ist ihre Einbettung in Kunst und Kultur und festliche Inszenierung. Dies wollte Pierre de Coubertin, aber vor dem Ersten Weltkrieg ist ihm das nur in Stockholm gelungen. Auch in der Weimarer Zeit war das kaum zu sehen, weder im zerstörten Antwerpen 1920 noch in Paris 1924 oder 1928 in Amsterdam. 1932 haben die Amerikaner dieses Protokoll ein bisschen in Richtung Show entwickelt, aber noch verhalten. Die ersten Olympischen Spiele, bei denen die Wettkämpfe, das Protokoll und die gesamte Gestaltung zu einem Gesamtkunstwerk verschmolzen, waren die Berliner Spiele.
Danach hat Pierre de Coubertin gesagt, dass diese Spiele die Form erreicht hätten, die ihm immer vorgeschwebt habe. Als Dank hat er seinen persönlichen Nachlass nach Berlin schaffen lassen in das neu gegründete Internationale Olympische Institut. Leider sind im September 1943 all diese Unterlagen einem britischen Luftangriff zum Opfer gefallen.
Man denkt an die 2008 Trommler in Peking 2008 und an Queen Elizabeth II., die 2012 mit einem Fallschirm ins Olympiastadion schwebte. Würde Pierre de Coubertin dieses aktuelle Maß an Unterhaltung für übertrieben halten? Wie sehen Sie das?
Wenn man die Entwicklung der Eröffnungsfeier außerhalb des Protokolls beachtet, gibt es vier Olympische Spiele, die diese jeweils auf eine neue Entwicklungsstufe gebracht haben: Berlin 1936, München 1972, Barcelona 1992, und Peking 2008. 1972 war die Einbindung von Kunst und Kultur durch Willi Daume [Anm. der Red: Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland 1961-1992] sogar einmalig gewesen: das Beiprogramm in München, das gesamte Kunst- und Kulturprogramm, der Wissenschaftskongress, die Ausstellungen im Deutschen Museum, die Spielstraße, die Gestaltung des Oberwiesenfeldes und so weiter. Ich war damals als junger Assistent beteiligt. Daume hat diesen Aspekten viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Wettkämpfen selbst.
Es wurde schon aus Rio berichtet, dass das Kulturprogramm weitgehend gekürzt worden ist. Erwarten Sie trotzdem eine Eröffnungszeremonie, die den olympischen Geist hochhält?
Das, was München und Berlin auszeichnete, war die olympische Botschaft in ihrem zeitgenössischen Kolorit. So schön die großartigen akrobatischen und inszenatorischen Leistungen von Sotchi und Peking waren, trafen sie nicht den Kern der Idee. Was in Rio de Janeiro sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber fest steht, dass bei diesen Eröffnungsfeiern normalerweise die Selbstdarstellung der eigenen Kultur und nationalen Identität im Vordergrund steht. Und das ist auch legitim. Man darf mit den Mitteln der Folklore den Athleten und Zuschauern zeigen, in welchem Land die Olympischen Spiele stattfinden. Je ähnlicher das Protokoll ist und je normierter die Wettkampfstätten - irgendwo muss ein Kolorit deutlich werden, das man mit dem Gastgeber verbindet.
Sporthistoriker Professor Dr. Manfred Lämmer ist Experte für Geschichte und Ideologie der modernen Olympischen Bewegung, Sport in der Griechischen-Römischen Antike und Sport in der jüdischen Geschichte. Er ist Mitiniator des Deutschen Sport- und Olympia-Museums in Köln und des Deutschen Olympischen Instituts in Berlin. Prof. Dr. Lämmer war auch Präsident der International Society for the History of Physical Education and Sport und langjähriger Vizepräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft. Über mehr als drei Jahrzehnte wirkte er an der inhaltlichen Vorbereitung aller Olympischen Spiele für das deutsche Nationale Olympische Komitee und war 1980-1981 persönlicher Berater des NOK-Präsidentenen Willi Daume.
Das Interview führte Kate Müser.