Niederlande: Spannung und Ungewissheit
15. März 2017Die Frühlingssonne wärmt die Gäste der Straßencafes rund um den Binnenhof, den Sitz des niederländischen Parlaments. Das Wetter könnte mit ein Faktor dafür sein, dass die Beteiligung bei der Wahl der "Zweiten Kammer" an diesem Mittwoch höher liegt als vor vier Jahren. Das ist der Trend, den die Wahlforscher am Nachmittag durchgeben. In manchen Wahllokalen werden sogar zeitweise die Stimmzettel knapp. Ansonsten weiß man eigentlich nur, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Frage gibt, welche Partei die stärkste im Parlament mit seinen 150 Sitzen werden wird. Die jüngsten Meinungsumfragen sehen den Ministerpräsidenten Mark Rutte mit seiner liberalen VVD trotz starker Verluste weiter auf dem ersten Platz, und zwar vor dem Rechtspopulisten Geert Wilders mit der PVV. Manche Umfragen sehen Wilders, der sich für ein Verbot des Islam und den Austritt der Niederlande aus der EU ausspricht, auch auf dem dritten oder gar fünften Platz. Allerdings lag Wilders' Partei, dessen einziges Mitglied er ist, noch vor drei Wochen auf dem ersten Platz. Der aktuelle Streit mit der Türkei könnte Ministerpräsident Rutte geholfen haben, der sich als väterlicher und gelassener Staatsmann gab, die entscheidenden Punkte zu sammeln. Auch Erdrutsch-Siege in die eine oder andere Richtung haben die Wahlforscher nicht ausgeschlossen. "Seit Trump wissen wir eigentlich gar nichts mehr so richtig", meinte einer im Fernsehsender NOS.
Wilders wird nicht regieren
28 Parteien stehen mit all ihren Kandidaten auf dem 1,5 Quadratmeter großen Wahlzettel. Die politische Landschaft ist unübersichtlich. Die Zeitung "De Volkskrant" nannte die Niederlande am Mittwoch auf ihrer Titelseite ironisch eine "Sehrsehrvieleparteiendemokratie". Die stärkste Fraktion wird bestenfalls 27 der 150 Sitze im Parlament bekommen. Für die liberale VVD wäre das ein gewaltiger Absturz von den 41 Sitzen bei der letzten Wahl 2012. Eine Koalition aus vier Parteien, so schätzen die Kommentatoren in den niederländischen Medien, wird nötig sein, um eine Regierung zu bilden. Geert Wilders wird mit seiner PVV auf keinen Fall dabei sein, obwohl er wahrscheinlich neun Sitze zusätzlich erobern wird und auf insgesamt 24 kommen könnte. Alle übrigen Parteien haben Koalitionen mit dem Rechtsausleger abgelehnt. Auch Ministerpräsidenten Rutte, der sich von 2010 von 2012 schon einmal von Wilders tolerieren ließ, als er keine eigene Mehrheit mehr hatte. Fast völlig verschwinden werden die Sozialdemokraten, die bislang mit Rutte regierten.
Grünlinke und Christdemokraten können hoffen
Wahlgewinner dürften neben Wilders auch die Christdemokraten und die "Grünlinken" sein. Deren Parteichef Jesse Klaver ist so etwas wie der junge, gut aussehende Star am Polithimmel. Er hat marokkanische und indische Vorfahren, tritt für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Europäische Union ein. Klaver ist eine Art Anti-Wilders und wird deshalb von manchen schon "Jessias" genannt, eine Mischung aus Jesse und Messias. "Nein, das bin ich wirklich nicht", sagt Jesse Klaver lachend im Gespräch mit der Deutschen Welle in seinem Wahllokal. "Ich bin auch nicht Justin Trudeau, obwohl ich ihn beneide. Er hat mehr Muskeln als ich", meint Klaver und zeigt auf seinen schlanken Körper im blauen Anzug. Mit dem kanadischen Premier wird er oft, vor allem von ausländischen Medien, verglichen. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit, kann auf Menschen zugehen wie Trudeau. "Ich glaube, dass trotz aller Wilders-Hysterie am Ende eine Mitte-links-Regierung möglich ist", sagt Jesse Klaver voraus. Seine "Grünlinken" sollten dann dabei sein. Die Prognosen sehen sie bei 19 Sitzen. 2012 waren es nur vier.
Ohne Programm ins Parlament
Es gibt keine Sperrklausel im niederländischen Wahlrecht. 0,67 Prozent der Stimmen landesweit reichen, um einen der 150 Abgeordnetensitze zu ergattern. Auf diesen Stimmenanteil hofft Chantal Klaver (nicht verwandt mit Jesse). Sie teilt vor einem Stimmlokal im Hauptbahnhof von Den Haag auch am Wahltag noch ihre Flugblätter aus, was in den Niederlanden erlaubt ist. Vor drei Monaten hat sie die Partei "Keine Richtung" mit gegründet. Ein Programm gebe es nicht, erzählt Chantal Klaver. "Ich bin für totale direkte Demokratie. Wir gehen erst einmal ins Parlament, und dann schauen wir mal." Ihr Wahlslogan lautet schlicht: "Stimme für dich selbst!". Chantal Klaver ist nicht die einzige Vertreterin einer für den Beobachter etwas abseitig erscheinenden Partei. Auf dem Wahlzettel finden sich auch eine "Jesus-Partei", die "Nicht-Wähler", die Partei für die besten Jahre, "50plus", und die Partei für die Tiere. Die beiden letzteren sind bereits im Parlament vertreten und haben Chancen, ihre Sitzzahl von jeweils zwei noch auszubauen. Das gleiche Ziel verfolgt auch die "Denk", eine türkische Migrantenpartei, die für die Politik des türkischen Präsidenten Erdogan Sympathien hegt. Das seltsame Wahlrecht nutzt auch Rechtspopulist Geert Wilders aus. Er ist das einzige Mitglied seiner PVV. Das ist praktisch. Er braucht keine internen Wahlen, keine Parteitage und nur ein äußerst knappes Wahlprogramm. Im Wahlkampf zeigt er sich nur selten öffentlich. Hauptsächlich twittert er.
Niederlande sind erst der Auftakt zum Superwahljahr
Ministerpräsident Mark Rutte sagte in der letzten Fernsehtalkshow vor der Wahl, dass die Niederlande das Viertelfinale im Superwahljahr 2017 der EU seien. Das Halbfinale sei die Präsidentschaftswahl in Frankreich im April (erste Runde) und Mai (zweite Runde). Das Finale folge schließlich mit der Bundestagswahl in Deutschland im September, glaubt Rutte. Jedesmal gehe es darum, die rechten Populisten, Rassisten und EU-Gegner in ihre Schranken zu weisen. "Wir haben mit dieser Wahl auch eine Verantwortung für Europa. Deshalb gehe ich wählen", sagte Alfons Jacobs der DW im Hauptbahnhof von Den Haag auf dem Weg zur Stimmabgabe. Jacobs sieht das ähnlich wie der Ministerpräsident. "In vielen Ländern Europas suchen die Menschen nach ihrer nationalen Identität." Der Streit mit der Türkei und die Vorwürfe, die Niederländer seien Nazis, hätten viele Menschen mobilisiert. Andere Wähler, die wir befragen, meinen hingegen, der Streit mit Erdogan habe nur geringen Einfluss auf ihre Entscheidung. "Mir geht es darum, dass es den Niederlanden besser geht, um die Wirtschaft", meint Hennike. Mauritz, der hinter ihr in der Schlange steht, will vor allem das Image der Niederlande retten. "Ich will Europa eine positive Nachricht senden." Nicht alle Niederländer seien rechte Wilders-Fans. "Das Land ist gespalten, richtig, aber es gibt auch eine Menge Positives hier."