Endspurt in den Niederlanden
14. März 2017Mark Rutte kämpft um sein Amt und sein politisches Überleben. Also geht er noch in den letzten Stunden vor Öffnung der Wahllokale raus zu seinen Wählern, auf den Grote Markt in Den Haag. Der Regierungschef, der sonst als bürgerferner Aktenfresser gilt, will mit den Leuten reden. Umringt von einer Pressemeute - TV-Sender und Journalisten aus allen Ländern Europas, aus den USA, Australien, Japan. Noch nie hat es so große Aufmerksamkeit für Wahlen in den Niederlanden gegeben.
Hat der Türkeistreit Einfluss?
"Für uns wurde die Geschichte richtig interessant durch den Krach zwischen der Türkei und den Niederlanden", sagt zum Beispiel CNBC-Reporter Steve Sedgwick. Die meisten anderen aber wiederholen in ihren Vorabberichten die Geschichte vom Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa am Beispiel von Geert Wilders, der die Zukunft der EU in Gefahr bringen kann.
Mark Rutte schüttelt auf dem Marktplatz noch einmal Hände nach allen Seiten und beantwortet gleichzeitig die Fragen der Reporter nach den jüngsten Umdrehungen im Türkeistreit. Was sagt er dazu, dass Erdogan die Niederlande jetzt für den Tod von 8000 bosnischen Muslimen 1995 in Srebenica verantwortlich macht? Es zeige sich, dass Charakter und Natur der Niederländer "verdorben" seien, so hatte der türkische Präsident noch draufgesetzt. "Hysterisch" nennt Rutte dieses Gerede und eine "widerliche Geschichtsfälschung". Gleichzeitig will er nicht in eine Eskalationsspirale mit der Türkei einsteigen. Und Angst vor Wirtschaftssanktionen haben die Niederlande auch nicht: Nur ein Prozent ihrer Exporte gehen in die Türkei. Die Drohungen aus Ankara werden als leer betrachtet.
Der Regierungschef aber könnte noch Nutzen aus dem Krieg der Worte mit dem verbal entfesselten türkischen Präsidenten ziehen. Wenn die letzte Umfrage vom I&O-Institut am Tag von der Wahl den Trend richtig zeigt, wäre Ruttes liberale Partei VVD nach dem Wochenende um mehrere Punkte gestiegen und hätte das Feld der Parteien inklusive Geert Wilders PVV hinter sich gelassen. Gleichzeitig aber stiegen in den letzten Tagen auch die traditionellen Parteien auf, die sich als mögliche Koalitionspartner anbieten könnten: Die Linksliberalen, die Christdemokraten und Grün-Links.
Auch der zweite Platz ist für Wilders nicht sicher
Zu den Überraschungssiegern dieser Wahl könnten etwa die Grünen gehören: Ihr junger Parteichef Jesse Klaver hat sich regelrecht als Anti-Wilders profiliert. "Wir lieben Europa und sind für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in den Niederlanden. Diskriminierung und Rassenhass lehnen wir ab". Seine Botschaft formuliert er frei nach Obama als "Hoffnung" für das Land. Vor allem junge Wähler strömen ihm in Scharen zu und verhelfen der vorher winzigen Partei zu zweistelligen Umfragewerten.
Aber auch Kees Verhoeven von den Linksliberalen, der schon seinen fernsehgerechten Schlips in der Parteifarbe strahlendgrün trägt, setzt beim Gang über den pittoresken Innenhof des Parlaments in Den Haag große Hoffnung auf den Endspurt: "Natürlich hoffen wir, dass wir jetzt noch weiter aufsteigen und Wilders überholen. Das ist absolut möglich! Und wir wollen auch bei einer Regierung mitmachen, die für alle Bürger da ist und alle einbezieht." Auch bei D66 das Gegenteil zum Rechtspopulismus - Gemeinsamkeit statt Ausgrenzung.
Eigentlich geht es um die Alltagssorgen
Während aber die internationale Presse immer wieder die Geschichte vom scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Rechtspopulismus in den Niederlanden erzählt und von den Ängsten der Bürger vor Muslimen und Migranten, geht es wohl den meisten Leuten um alltägliche Sorgen. Es geht um die Kosten der Krankenversicherung, die Altenheime, die Krankenhäuser und allgemein um die Folgen der sozialen Einschnitte in den letzten Jahren.
Das illustriert ein Blick auf die große Zeitung "Allgemeen Dagblad" am Tag vor der Wahl: Auf der Titelseite ein Foto von Rutte und Wilders bei der Debatte am Montagabend. Aber viel größer gedruckt darunter die Meldung "Preis für Bahnkarten explosiv gestiegen". Die meisten Niederländer werden wohl wieder eine Partei aussuchen, die ihnen glaubhaft verspricht, demnächst wieder etwas mehr Geld im Portemonnaie zu haben. Wie weit dabei Geert Wilders mit seinem Islamhass und seiner "Koranpolizei" kommt, wird man Mittwoch gegen Mitternacht wissen.