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Sprechchor: "Diktator, tritt zurück!"

3. Juni 2013

Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. Auch am Montag gingen Tausende aus Protest gegen die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Erdogan auf die Straßen. Inzwischen gab es das erste Todesopfer.

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Ein Polizist feuert eine Tränengasgranate in Richtung Demonstranten in Ankara (Foto: Reuters)
Türkei Demos in Ankara 03.06.2013Bild: Reuters

In Ankara feuerten Einsatzkräfte Tränengasgranaten auf rund 1000 Demonstranten (siehe Artikelbild). Die meist jugendlichen Teilnehmer skandierten "Tayyip tritt zurück", wie ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters berichtet. Zuvor hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Bevölkerung zur Ruhe aufgerufen. Die Parlamentsabgeordnete Aylin Nazliaka berichtete, die Polizei habe in Ankara 1500 Menschen in Gewahrsam genommen.

In mehreren türkischen Großstädten hatten sich Demonstranten und Polizisten bis weit in die Nacht zum Montag wieder Straßenschlachten geliefert. Auf einer Schnellstraße wurde ein Demonstrant nach Angaben von Ärzten tödlich verletzt, als ein Taxi in einer Gruppe von Protestierenden fuhr. Im Istanbuler Stadtteil Besiktas setzte die Polizei laut Augenzeugen Tränengas und Wasserwerfer gegen Tausende Protestierende ein.

In dem Stadtteil liegt auch das Büro von Regierungschef Erdogan. Sicherheitskräfte riegelten die zum Amtssitz führenden Straßen ab. Die Menge skandierte: "Diktator, tritt zurück! Wir wehren uns, bis wir gewinnen." Auch auf dem mehrere Kilometer entfernten Taksim-Platz gingen die Proteste von Tausenden Demonstranten weiter. Im Stadtzentrum durchkämmte die Polizei ein Einkaufszentrum und andere Gebäude, in denen Regierungsgegner vermutet wurden. Hunderte Menschen wurden festgenommen.

Türkei: Straßenschlachten gegen die Autorität

Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei gab es auch in der Hauptstadt Ankara. Dort waren Sicherheitskräfte bereits am Sonntagnachmittag mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Protestierende vorgegangen. Wie der arabische TV-Sender Al-Dschasira berichtete, setzte die Polizei auch in Izmir, der drittgrößten türkischen Stadt, Wasserwerfer gegen die Menge ein. Immer wieder wurden Rufe nach Erdogans Rücktritt laut, dem die Demonstranten einen zunehmend autoritären Stil und eine "Islamisierung" der Gesellschaft vorwerfen. Erdogan ist seit März 2003 Regierungschef des Landes.

Die schwersten Proteste seit einem Jahrzehnt

Die Türkei wird seit dem Wochenende von den schwersten Protesten seit einem Jahrzehnt erschüttert. Diese hatten ursprünglich am Dienstag mit Kundgebungen gegen ein Bauprojekt in einem Park unweit des Taksim-Platzes in Istanbul begonnen. Nach einem als unverhältnismäßig kritisierten Einsatz der Polizei nahmen sie inzwischen aber eine allgemein regierungskritische Wendung und weiteten sich auf das ganze Land aus.

Demonstranten mit der türkischen Flagge im Gezi-Park (Foto: rtr)
Auch am Montag versammeln sich Demonstranten im Gezi-Park nahe dem Taksim-PlatzBild: Reuters

Nach Angaben von Innenminister Muammer Güler wurden inzwischen mehr als 230 Kundgebungen in fast 70 Städten registriert. Hunderte Menschen wurden laut der Ärztegewerkschaft von Ankara verletzt, in Agenturen ist von mehr als 1000 Verletzten die Rede. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International teilte mit, es gebe Berichte auch über zwei Tote.

Mahnende Worte der Kanzlerin

Bundeskanzlerin Angela Merkel rief die Regierung in Ankara zur Besonnenheit auf. Rechtsstaatliches Verständnis erfordere ein verhältnismäßiges und angemessenes Vorgehen der Sicherheitsbehörden, sagte Merkels Sprecher Steffen Seibert in Berlin. "Also ist in dieser Stunde das Gebot Deeskalation und Dialog." Die Bundesregierung verfolge die Nachrichten aus der Türkei mit Sorge. Seibert unterstrich: "Es ist ganz klar das Recht der Bürger auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungsfreiheit, das ist ein grundlegendes Recht in einer Demokratie." Die EU-Außenbeautragte Catherine Ashton kritisierte den "unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt" durch die Polizei.

Nimmt das Ansehen Schaden?

Außenminister Ahmet Davutoglu forderte ein Ende der Proteste. Sie könnten das "Ansehen" des Landes in der Region und der ganzen Welt beschädigen. Ministerpräsident Erdogan räumte ein, dass die Polizei in einigen Fällen "extrem" reagiert habe. Gleichzeitig aber bekräftigte er, an dem Bauvorhaben in Istanbul festhalten zu wollen.

Zudem kündigte der Regierungschef den Bau einer Moschee auf dem Taksim-Platz an. "Ja, wir werden eine Moschee bauen. Und dafür werde ich weder die Opposition noch ein paar Plünderer um Erlaubnis fragen" - schließlich, so fuhr Erdogan fort - habe er diese Erlaubnis ja bereits von seinen Wählern. Die Protestwelle gegen ihn und seine Regierung sieht er von Extremisten organisiert. Der Geheimdienst prüfe zudem Verbindungen der Demonstranten zum Ausland. Seine Partei, bilanzierte Erdogan, habe bei drei Parlamentswahlen wachsende Zustimmung erfahren und das Volk hinter sich.

Daraufhin fuhr Präsident Abdullah Gül seinem Ministerpräsidenten ein weiteres Mal in die Parade. "Demokratie bedeutet nicht allein Wahlen zu haben", betonte Gül laut türkischen Medienberichten. "Wir leben in einer offenen Gesellschaft." Unterschiedliche Meinungen müssten geäußert werden, aber mit gegenseitigem Respekt.

se/sti (dpa, rtr, afp)