Erdogans Fehlkalkulation
1. Juni 2013Die schockierenden Ereignisse in der Türkei begannen nach friedlichen Protesten zum Schutz eines kleinen Parks, dessen Bäume einem fragwürdigen Bauprojekt einschließlich Einkaufszentrum zum Opfer fallen sollen. Die Umweltschützer formierten sich zu einer Protestfront, die die türkische Polizei mit einer brutalen, eines Rechtsstaates unwürdigen Härte aufbrechen wollte, was ihr nicht gelungen ist. Im Gegenteil wurden die Reihen gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan immer dichter. Nach Istanbul wurden aus Ankara, Izmir und weiteren anatolischen Großstädten Demonstrationen gegen die Regierung und schwere Zusammenstöße gemeldet.
Erdogans Fehlkalkulation besteht in der Annahme, seine Übermacht im Parlament gebe ihm das Recht, seine Stärke ohne Rücksicht auf demokratische Oppositionskräfte und auf die von ihm maßgeblich polarisierte Gesellschaft auszuspielen. Deshalb darf er sich nicht wundern, wenn seine politischen Gegner und jetzt auch noch die türkischen "Wutbürger" ihn mit den gestürzten Despoten in den arabischen Ländern vergleichen. Die keineswegs homogene Oppositionsfront gegen ihn hat sich zunächst einmal auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, nämlich ihm die Grenzen seiner Macht aufzuzeigen.
Dialog statt Basta-Strategie
Zwar versuchten Erdogan und seine Gefolgsleute die Wogen zu glätten, indem sie erklärten, der Polizeieinsatz sei über das Ziel hinausgeschossen, Pfefferspray, Tränengas und Hochdruckwasserwerfer hätten nicht sein müssen. Doch im gleichen Atemzug wird der Einsatz dieser Waffen "notfalls" auch für künftige Fälle angekündigt. Von der Bereitschaft zu einem gesellschaftlichen Dialog befindet sich Erdogan somit noch weit entfernt. Doch gerade der Respekt vor den vielen ethnischen und religiösen Schichten der türkischen Gesellschaft gebietet den Dialog statt einer "Basta!"-Strategie.
Warum hatte Erdogan seinem früheren Freund, dem syrischen Diktator Baschar al Assad, in der Anfangsphase des Bürgerkrieges empfohlen, nicht so hart gegen die Demonstranten vorzugehen? Damit die Gewaltbereitschaft auf der Oppositionsseite nicht gesteigert wird. Warum hatte er nach den Demonstrationen und dem Sturz der Mubarak-Herrschaft den Laizismus, die Trennung von Religion und Staatsgeschäften, als Modell empfohlen? Damit Ägypten sich um das friedliche Nebeneinander von Religionen und der Demokratie bemüht. Alle diese Empfehlungen waren für frühere oder neue Freunde in den arabischen Ländern gut genug. Nur im eigenen Land lässt Erdogan keinen Raum für einen gesellschaftlichen Konsens, zu dem freilich auch die Opposition verpflichtet werden muss.
Erdogans Härte gefährdet den Erfolg der Türkei
Erdogans Härte gefährdet die bislang von vielen Ländern Europas beneideten positiven wirtschaftlichen Entwicklungen sowie den Tourismus als eine der wichtigsten Einnahmequellen seines Landes. Zudem riskiert Erdogan mit seiner Unnachgiebigkeit bei Widerspruch und Kritik an seiner Politik seine politische Zukunft. Eine moderne laizistische Türkei kann nicht auf Verboten und der Ablehnung politisch und religiös Andersgläubiger fußen.
Die Auseinandersetzungen um die Rettung des kleinen Parks am Taksim-Platz vor einem unnötigen Bauprojekt sind vielleicht eine der letzten Warnungen vor weiteren Eskalationen. Erdogan sollte die Warnsignale ernst nehmen, damit der Taksim-Platz nicht weiter symbolisch mit dem Tahrir-Platz in Kairo verglichen wird. Ein Verwaltungsgericht in Istanbul hat mit einer einstweiligen Anordnung gegen das Bauprojekt allen Seiten Zeit zur Beruhigung ermöglicht. Diese Entscheidung war rechtsstaatlich äußerst korrekt und sehr wichtig. Zu hoffen bleibt, dass vor allem Erdogan, aber auch die Oppositionellen sich um akzeptable Auswege aus der bedrohlichen Krise bemühen und diese auch beschreiten. Die Türkei ist zu wichtig als eine regionale Richtschnur für viele Staaten, die nach einem nachahmenswerten Staatsmodell auf der Basis der Koexistenz von Islam und Demokratie suchen.