Demonstrationen gehen weiter
1. Juni 2013Die Demonstration begann am Wochenanfang mit einem friedlichen Protestcamp am "Gezi-Park" im Zentrum Istanbuls. In der Nacht von Donnerstag (30.05.2013) auf Freitag gingen türkische Polizeieinheiten gegen campierende Demonstranten vor. Mittlerweile haben sich die Demonstrationen zu einem generellen Protest gegen die Politik des seit zehn Jahren regierenden Premiers Erdogan auf das ganze Land ausgeweitet. Die Menschen fordern in ihren Demonstrationsslogans vermehrt den Rücktritt der Regierung.
Einstweilige Verfügung gegen den Bau
Ursprünglich richtete der Protest sich gegen Pläne der türkischen Regierung zur Umgestaltung des "Gezi-Parks". Dort soll ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert neu errichtet werden. Dafür müssen hunderte Bäume in dem Park gefällt werden. In der Kaserne soll außerdem ein neues Einkaufszentrum untergebracht werden. Dieser Plan brachte für viele Demonstranten das Fass zum Überlaufen: Istanbul mit seinen weit über 15 Millionen Einwohnern werde immer mehr zubetoniert, sagen sie.
Ministerpräsident Erdogan erklärte den geplanten Bau trotz der Demonstrationen für beschlossene Sache. "Ihr könnt machen, was immer ihr wollt. Wir haben unsere Entscheidung getroffen und ziehen sie durch", zitiert die Zeitung "Bugün" den türkischen Premierminister. Ein Istanbuler Verwaltungsgericht erließ jedoch eine einstweilige Verfügung gegen das Bauprojekt. Diese gilt solange, bis sich das Kultur- und Tourismusministerium in einem Statement zu dem geplanten Bau äußert. "Die wenigen verbliebenen Grünflächen im Istanbuler Stadtteil Beyoglu sollten nicht zu einem Einkaufszentrum umgestaltet werden, nur damit jemand Profit daraus schlagen kann", so Ertugrul Günay, ehemaliger türkischer Kultur- und Tourismusminister unter Erdogan.
"Die Türkei braucht keine neuen Shopping-Malls"
"Großstädte wie Istanbul leiden unter zuvielen Einkaufszentren", kritisiert auch Murat Izci, Gründer der Unternehmensberatung KDM Consulting, gegenüber der türkischen Zeitung Hürriyet. Im Jahr 2000 habe es lediglich 46 Einkaufszentren in der Türkei gegeben. Heute sei die Zahl auf 299 gestiegen, so Izci.
Der von den jetzigen Demonstrationen betroffene "Gezi-Park" gehört zwar zu den kleinsten der Stadt, doch für viele Istanbuler stellt der Park das letzte Stück Grün in der Innenstadt dar. "Ich kann nicht mit ansehen, wie sie die historischen Bäume des Parks abholzen. Die Bebauung der Stadt überflutet uns wie eine Tsunami-Welle. Das nimmt kein Ende", so ein türkischer Architekturstudent während der Demonstration gegenüber der Deutschen Welle.
Soziale Medien machen Druck
Die Demonstranten, die die Abholzung der historischen Bäume des "Gezi-Parks" verhindern wollten, organisierten sich vor allem über Facebook und Twitter. Seit Freitag früh gehen unter dem Hashtag #geziparki Fotos und Videos um die ganze Welt. Laut Washington Post haben fünf von elf Hauptmeldungen auf Twittter mit dem Protest in Istanbul zu tun. Zu sehen ist die brutale Vorgehensweise der Polizeieinheiten und bewegende Aufnahmen: Menschen, darunter auch Kinder, die durch die Polizei mit Hilfe von Tränengasbomben unter anderem in die U-Bahnschächte getrieben werden und kaum noch Luft bekommen.
Auch aus anderen Ländern wie Deutschland und England wird der Protest in der Türkei unterstützt. Kommentare wie: "Occupy Gezi Parki, Ihr seid nicht allein! Die Menschen in Oxford glauben an Euer Recht zu protestieren" werden auf Facebook veröffentlicht und sollen die türkischen Demonstranten motivieren, für ihre Rechte zu kämpfen. Auch in mehreren deutschen Großstädten wurden Demonstrationen für das Wochenende angekündigt.
Da nur wenige türkische TV-Sender wie Halk-TV (Volks-TV) die Geschehnisse live übertragen, sind die sozialen Netzwerke für die Demonstranten die wichtigste Anlaufstelle, um sich mitzuteilen. Durch die landesweiten Proteste auf der Straße, aber auch durch die weltweite Unterstützung in den sozialen Netzwerken gerät Erdogan zunehmend in Bedrängnis.
Solidarität aus weiten Teilen des Landes
Das Militärkrankenhaus im Istanbuler Stadtteil Gümüssuyu behandelte die durch Tränengas und Wasserstrahler verletzten Menschen. Auf offener Straße und vor den Augen der Polizeieinheiten wurden außerdem Atemschutzmasken an die Menschen ausgeteilt. "Ich kämpfe hier für Atatürk, für meine Vorfahren und für meine Enkelkinder. Sie sollen in einer europäischen Türkei leben können, in denen Menschenrechte ganz groß geschrieben werden", so ein 64-jähriger Militärveteran während der Demonstration gegenüber DW.
Menschen aus vielen türkischen Städten solidarisieren sich mit den Istanbuler Demonstranten. Vor allem in Ankara versammelten sie sich im Kugulu Park, eine Grünfläche in der Innenstadt. Eine weitere Gruppe von rund 2000 Menschen traf sich im Abdi Pekci Park. Als sie zum Bürogebäude des Premierministers marschieren wollten, wurden sie von der Polizei mit Tränengas davon abgehalten.
In Izmir protestierten über 10.000 Menschen und hielten Banner mit der Aufschrift "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand" und "Izmir ist bei euch" in die Höhe. Auch die Demonstranten in Izmir wurden von den Polizisten mit Tränengas und Wasserstrahlern zurückgehalten. Weitere Solidaritätsproteste gab es in Bursa, Eskisehir, Adana, Izmit, Konya, Samsun, Mersin und anderen türkischen Städten. Für Samstag (01.06.2013) ruft die Oppositionspartei CHP zu einer Großdemonstration im Istanbuler Stadtteil Kadiköy auf. Gemeinsam ist ein Marsch in Richtung Taksim geplant.