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"Nationalismus war das Ziel des Krieges"

8. Dezember 2011

"Gewaltausbrüche kann es überall auf der Welt geben, in allen Gesellschaften, wenn bestimmte institutionelle und gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sind", ist die zentrale These des Historikers Holm Sundhausen.

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Holm Sundhausen (Foto: DW/Emir Numanovic)
Holm SundhausenBild: DW/Emir Numanovic

Gewalt ist ein weltweites Phänomen. Meist geht es aber darum, zu erklären, unter welchen Bedingungen es zur Eskalation kommt - das ist die Kernthese des deutschen Historikers Holm Sundhausen, die er auf einer Konferenz in Klagenfurt über die Ursachen und Folgen der Kriege im früheren Jugoslawien (29.11. – 01.12.2011) vorgetragen hat. "Daher", so Sundhausen, "ist ein sehr gefährlicher Irrglaube, dass das, was im ehemaligen Jugoslawien geschehen ist, in Europa oder in Deutschland nicht geschehen kann. Der Mensch ist gewaltfähig, aber er ist nicht unbedingt gewalttätig. Die Frage ist daher: Unter welchen Bedingungen wird er gewalttätig?" Emir Numanovic mit ihm gesprochen.

DW-WORLD.DE: Herr Sundhausen, Sie haben von den politischen und ökonomischen Umständen gesprochen, die Kriege begünstigen. Sie haben aber auch die Chronologie der Ereignisse im früheren Jugoslawien hervorgehoben, die wichtig wird, wenn man verstehen will, was in diesem konkreten Fall passiert ist. Was haben Sie damit gemeint?

Holm Sundhausen: Viele Beobachter sagen ja zu Recht, dass von allen Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien Kriegsverbrechen begangen worden sind, und dass ethnische Säuberungen auch von allen praktiziert wurden. Viele leiten daraus ab, dass alle gleich schuldig sind – was dann eben auch heißen würde, dass alle mehr oder minder gleich unschuldig sind. Das ist meines Erachtens eine sehr beliebige These. Es ist eine Tatsache, dass aus Gewalt noch mehr Gewalt entsteht: Menschen, die extremer Gewalt ausgesetzt waren, wenden oft ebenfalls Gewalt an, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Aber das heißt gerade nicht, dass jede Form von Gewalt von vorneherein gleich ist: Man unterscheidet zwischen einer Anfangsgewalt, die eine Gewaltspirale erst in Gang setzt, und einer Folgegewalt, die davon ausgelöst wird.

Das scheint mir eine recht gefährliche These. Ist die Folgegewalt also weniger schlimm, weil sie nur eine Reaktion ist? Das kann man leicht missbrauchen.

Sowohl die eine wie die andere Form von Gewalt ist nicht akzeptabel und muss juristisch verfolgt werden. Aber beide Arten sind eben nicht identisch. Ich denke, dass das für die Ursachenforschung und für die Prävention ein wichtiger Aspekt ist. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass überall auf der Welt, wo Gewalt in Gang gesetzt wird, mit Gegengewalt reagiert wird - und diesen Mechanismus wird man wahrscheinlich kaum durchbrechen können. Es ist wichtig, nachzufragen, wer eine Gewaltspirale in Gang bringt: Wie kommt es zu Gewalt? Wie werden normale Menschen – also nicht Psychopathen oder Sadisten, die es ja auch gibt – zu Massenmördern?

Im Falle Jugoslawiens ist es nicht damit getan, dass man behauptet, die ehemalige Konfliktpartei, also die Serben, die Kroaten, die Bosniaken oder die Albaner seien kollektiv schuldig und wir die kollektiven Opfer. Man muss vielmehr verstehen, dass zunächst nur kleine Gruppen die Gewalt initiiert haben. Das waren allerdings keine Randgruppen, sondern organisierte Gruppierungen. Hier spielen die paramilitärischen Banden, die Spezialeinheiten von Polizei und Militär eine große Rolle. Dann kam eine Phase, in der die Bevölkerung natürlich zu Recht gefragt hat, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Und dann wurden die großen Erklärungen geliefert: simple, einfache Erklärungen, die darauf abzielten, die Bevölkerung zu polarisieren.

Wie sah das in Jugoslawien Ende der Achtzigerjahre aus? Welche Bedingungen haben damals den Krieg ermöglicht?

Am Anfang solcher Prozesse steht zumeist eine große Krise. Im ehemaligen Jugoslawien war dies die große Krise der Achtzigerjahre, die sich aus einer Vielzahl von Teilkrisen zusammensetzte, die sich ihrerseits wechselseitig verstärkt haben. Da war zunächst die ökonomische Krise, die zwar schon in den Siebzigerjahre begonnen hat, aber erst in den Achtzigern in das Bewusstsein der Menschen und der Politiker drang. Dann war da die sogenannte Verfassungskrise, die aus meiner Sicht keine Verfassungskrise im engeren Sinn war, sondern eigentlich eine politische Krise. Jugoslawien war nicht per se unregierbar. Es war kompliziert regierbar, aber regierbar, wenn die politischen Eliten konsens- und kompromissfähig gewesen wären. Und dann, ganz wichtig, gab es eine Art intellektuelle Krise, die dazu geführt hat, dass im Verlauf der Achtzigerjahre der öffentliche Diskurs völlig verwandelt hat.

Kurz nach den Demonstrationen der Albaner im Kosovo begann das in Serbien zunächst mit einigen orthodoxen Priestern - mit dem Appell der 21 Mönche, wie es damals hieß, in dem zum ersten Mal 1992 von einem Genozid die Rede ist, obwohl von einem Genozid natürlich keine Rede sein konnte. Anhand der heute verfügbaren Quellen kann man gut verfolgen, wie im Verlauf der Achtzigerjahre „Genozid“ zu einem Schlagwort, einem Top-Thema wurde, das plötzlich für alles angewendet werden konnte: Es gab den kulturellen Genozid, den demographischen Genozid, den Verwaltungsgenozid und etliche mehr. Das hat den öffentlichen Diskurs grundlegend verändert.

"Gewaltausbrüche kann es überall auf der Welt geben, in allen Gesellschaften, wenn bestimmte institutionelle und gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sind", ist die zentrale These des Historikers Holm Sundhausen.

Es fing an mit diesem Appell der Priester, dann kamen die Schriftsteller hinzu, Draskovic, Radulovic, Josic und so weiter, der ganze serbische Schriftstellerverband, der sich relativ schnell auf dieses Thema gestürzt hat. Dann war da das berühmte Memorandum der Akademie und so weiter. Dann kommt die nächste Phase, wo dann auch das Institutionengefüge, auf dem das zweite Jugoslawien zumindest seit Ende der 1960er Jahre aufgebaut war, in Frage gestellt und diese innere Machtbalance durch drastische Einschränkung der Autonomierechte für Kosovo und Vojvodina ausgehebelt wurde. Die damalige jugoslawische Bundespartei hat das mehr oder minder stillschweigend akzeptiert und argumentiert, das sei eine innerserbische Angelegenheit, und hat offenbar geglaubt, wenn sie Milosevic zufriedenstellen, dann ist das okay. Aber es war eben nicht nur eine innerserbische Angelegenheit, sondern damit wurde die ganze innere Machtbalance des zweiten Jugoslawien in Frage gestellt. Und das war eben auch etwas, was dann die anderen Republiken – Slowenien, Kroatien, Bosnien, Makedonien usw. – betraf.

Diese ganze Implementierungsphase für die spätere Eskalation der Gewalt zieht sich über die 1980er Jahre hin. Was für mich immer wieder sehr interessant war, ist die Tatsache, dass zunächst die Mehrheit der Bevölkerung, und zwar in allen jugoslawischen Teilrepubliken mit sicherlich graduellen Unterschieden, bis Ende der 1980er Jahre nur bedingt ihren Eliten gefolgt ist, weil die Interessen der Bevölkerungs-Mehrheit nicht unbedingt identisch waren mit den Interessen der Eliten. Und diese Umfragen, die wir im ehemaligen Jugoslawien haben bis Ende der 80er Jahre und noch in das Jahr 1990 hinein, zeigen ja, dass eigentlich überall eine Bevölkerungs-Mehrheit an dem Gesamtstaat festhalten wollte, und dass diese Konzeption "Jede Nation muss ihren eigenen Staat haben" zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wurde.

Dann schlägt das plötzlich innerhalb von etwa anderthalb Jahren um. Und da stellt sich natürlich die Frage, was ist passiert? Und passiert ist "die Demokratie", es kommen die ersten freien Wahlen, und das in einem Land, das seit 1927 keine freien, keine demokratischen Wahlen erlebt hatte. Das heißt, die Bevölkerung, die damals wahlberechtigt war, hatte ja noch nie eine funktionierende Demokratie erlebt, und Wahlen sind natürlich auch immer mit politischer Polarisierung verbunden. Anschließend an die Wahlen kam dann diese Flut an Referenden, in denen die Menschen fast über Nacht mit Fragen konfrontiert wurden, die ja sehr, sehr weitreichend waren, über deren Folgen sie in der Regel nicht informiert wurden und wo sie eigentlich nur die Möglichkeit hatten, mit ja oder nein zu stimmen. Und damit wird ein Prozess der Polarisierung in Gang gesetzt. Und dann kommen die ersten Gewaltakte. Es sind ja keine spontanen Gewaltakte gewesen, es waren organisierte Gewalttaten. Und das Ziel dieser Taten war, die Bevölkerung zu verunsichern und sie in einem zweiten Schritt dazu zu bringen, sich zu solidarisieren nach nationalen Kriterien.

...das Ziel war ja im Grunde Nationalismus….

Ja, richtig. Natürlich waren die Kriege der 1990er Jahre ethnische Kriege, aber eben nicht im Sinne der Verursachung, das heißt, die ethnischen Spannungen, die es sicherlich auch gab, waren nicht die Ursachen der Kriege, sondern sie waren Begleiterscheinung und Folge und Ziel der Kriege.

Besonders schwere Folgen hatte diese Entwicklung in Bosnien und Herzegowina.

Es gibt immer unterschiedliche Interessenlagen. Auch was Bosnien betrifft. Natürlich hat es auch von Seiten der bosniakischen Einheiten ethnische Säuberungen gegeben, das ist ja belegt. Und dennoch mache ich eben diesen Unterschied, dass ich sage, die Interessen der Bosniaken waren zu Beginn des Krieges eben andere als die Interessen der bosnischen Kroaten oder der bosnischen Serben. Die Bosniaken sind aus meiner Sicht, wenn ich das so offen sagen kann, nicht unbedingt besser als die bosnischen Kroaten oder die bosnischen Serben, aber sie hatten eine andere Interessenlage. Sie waren eben nicht interessiert daran, Bosnien zu teilen. Und daher haben sie zunächst auch eine andere Politik gemacht. Im Verlauf des Krieges änderte sich das – zum einen, weil Gewalt Gewalt zur Folge hat. Und zum anderen, weil zunächst angesichts der starken militärischen Überlegenheit der serbischen Seite natürlich Überlegungen angestellt wurden, was man vielleicht noch und wie man es retten kann. Und dann kommt es auch zu ethnischen Säuberungen, die ursprünglich eigentlich nicht vorgesehen waren.

Herr Sundhausen, Sie werden in Serbien wegen Ihrer Publikationen oft als "Serbenhasser" beschimpft, andererseits hat man Sie in Kroatien auch als "Kroatenhasser" bezeichnet. Warum fällt den Menschen im früheren Jugoslawien so schwer, die historischen Tatsachen zu akzeptieren?

Es ist in Jugoslawien nicht geglückt, eine Sicht, eine Interpretation, eine Erklärung der Vergangenheit zu finden, die über einen sehr engen nationalen Rahmen hinausgeht. Ich denke, das ist auch ein Problem einer falschen Geschichtspolitik, wobei man sagen kann, dass die Kommunistische Partei meines Erachtens zwei Fehler gemacht hat: Sie hat erstens zu lange darauf vertraut, dass man die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nur aus der Sicht betrachten darf, die nach 1945 offizielle Sicht wurde. Man hätte irgendwann eine kritische Diskussion darüber zulassen müssen. Das ist aber nicht erfolgt. Zweitens hat man diese Konzeption verfolgt: jede Republik macht ihre eigene Geschichtspolitik. Jemand, der in Kroatien lebt, darf sich nicht mit der Geschichte Serbiens beschäftigen und umgekehrt – das ist ja eine völlig verrückte Konzeption.

Und wie steht es heute damit? Wie wird heute in den Schulbüchern in verschiedenen neugegründeten Staaten die jüngste Vergangenheit beschrieben?

Da bin ich nicht der Spezialist, aber wir haben in Braunschweig ein internationales Schulbuch-Institut. Und ich weiß, dass dort auch viele Untersuchungen von Schulbüchern in den post-jugoslawischen Staaten durchgeführt wurden. Da wurden sowohl Defizite benannt, aber auch Fortschritte. Ich glaube, heute gibt es eine Vielzahl, eine Pluralität von Schulbüchern in den verschiedenen Republiken, die sich teilweise sehr unterscheiden. Und nun kommt es darauf an, welche Schule welches Schulbuch anschafft. Aber es ist etwas in Bewegung. Von dem, was ich so höre: Man bemüht sich darum, es gibt da auch internationale Tagungen, wo das diskutiert wird und – die Szene ist in Bewegung.

Die Fragen stellte Emir Numanovic

Redaktion: Zoran Arbutina