Titostalgie
4. Mai 2010Im Cafe "Tito" in Sarajevo dienen alte Wehrmacht-Helme als Deckenlampen oberhalb der Theke. An den Wänden hängen martialische Bilder und ausländische Zeitungsausschnitte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Der Namenspate der Gaststätte, Josip Broz, genannt Tito, als Messingbüste verewigt, schaut schweigend vor sich hin. Eine Uhr zeigt den Zeitpunkt seines Todes: drei-null-fünf, am Sonntag, 04. Mai 1980.
Die Gäste des Lokals, Teenager und Studenten, haben von Tito nur Gutes gehört. Zu seiner Zeit sei Jugoslawien einer der mächtigsten Staaten der Welt gewesen, meint der 17-jährige Ernes. Sein zwei Jahre älterer Freund Arif hat gehört, damals, anders als heute, habe die Polizei die Kriminellen bekämpft. "Es habe auch keinen großen Unterschied zwischen Arm und Reich gegeben", sagt er. Die Familie des 24-jährigen Nazif sei "echt nostalgisch", berichtet er. "Das Leben sei damals besser gewesen, Menschen sind weder aufgrund ihrer Namen noch ihrer Herkunft beurteilt worden."
35 Jahre lang absoluter Machthaber
Ernes, Arif und Nazif sind, wie alle Schüler und Studenten in Sarajevo, erst nach der Tito-Ära zur Welt gekommen. Sie kennen den Gründer der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien meist nur aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Der Vielvölkerstaat zerfiel, nachdem der Sohn eines Kroaten und einer Slowenin, ausgebildeter Schlosser, österreichisch-ungarischer Unteroffizier, sowjetischer Bolschewik und südslawischer Partisanenführer, im Alter von 88 Jahren verstorben ist.
Über 35 Jahre lang war Tito der absolute Machthaber im Balkan-Land mit seinen 23 Millionen Einwohnern. Zum Zeitpunkt seines Todes brodelte hinter der kommunistischen Fassade des Vielvölkerstaates längst der Nationalismus - zum Teil auch, weil Tito selbst keine Aufarbeitung der Geschichte zuließ. Es folgten die blutigen Kriege der neunziger Jahre. Vom menschlichen und wirtschaftlichen Verlust haben sich die meisten der damaligen Teilrepubliken und autonomen Provinzen - aus denen heute sieben mehr oder weniger selbstständige Staaten geworden sind - bis jetzt nicht wirklich erholt.
"Nur das Beste in Erinnerung"
In der bosnischen Hauptstadt gelangt man über die Marschall-Tito-Straße zum Büro des "Bundes der Vereine Josip Broz Tito" in Bosnien-Herzegowina. Die Vereinigung mit etwa 20.000 Mitgliedern ist eine der wenigen Organisationen in diesem Land, denen Menschen unterschiedlicher Völker und Religionen angehören. Was sie verbindet, so der Vorsitzende und Musikprofessor Faruk Sijarić, ist der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, der Widerstand gegen den modernen Faschismus und - die Erinnerung an Josip Broz.
"Ein Zehntel unserer Bevölkerung lebt heute zwar viel besser als früher, aber 90 Prozent leben viel schlechter als damals", erklärt Sijarić. "30 Jahre nachdem Tito gestorben ist, wird er langsam zur Legende. Sicherlich hat auch er Fehler gemacht. Doch eine Legende ist ein Gedanke, der mit der Zeit rein wird. In der Erinnerung an Tito ist nur das Beste geblieben.“
Josip Broz ist wieder da
Nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg ordneten die kommunistischen Partisanen massenhafte Exekutionen ihrer Gegner an, viele wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren verhaftet und misshandelt, die Mängel der Planwirtschaft und Arbeiterselbstverwaltung unter den Tisch gekehrt - das alles scheint aus dem Volksgedächtnis "bereinigt" worden zu sein. Ausgerechnet in dem vom Krieg am schlimmsten betroffenen Bosnien hat sich die Legende vom "guten" Tito am stärksten gehalten.
Aber auch im EU-Mitgliedsstaat Slowenien wird der Kult um den Mitbegründer der "Bewegung der Blockfreien Staaten" gepflegt. Im künftigen EU-Land Kroatien, in dem das Geburtshaus des Genossen steht und sein Staatsschiff "Möwe" noch vor Anker liegt, wird gerade mit großem Erfolg eine Tito-TV-Serie gezeigt. In der Bucht von Kotor in Montenegro feiert man jedes Jahr, wie früher, den Geburtstag des einstigen "Weltstaatsmannes" mit einem Jugendfest. In Mazedonien etablierte sich der "Kleine Bund der linken Kräfte Titos" als ernst zu nehmende oppositionelle Partei.
Und in Belgrad wurde letztes Jahr ein Enkel Titos, Josip Joška Broz, zum Vorsitzenden der neu geformten Kommunistischen Partei Serbiens gewählt. Sogar im Kosovo, dem einzigen Teil des früheren Jugoslawiens ohne eine slawische Bevölkerungsmehrheit, hänge Titos Bild immer noch an fast jeder Hauswand, behauptet der heute 63-jährige Rentner Joška Broz, der im Abschirmdienst seines Großvaters tätig war.
"Zu Lebzeiten verherrlicht, nach dem Tod verehrt"
Der einzige Enkelsohn aus Titos erster Ehe ist überzeugt, dass die Welle der sogenannten Jugostalgie über den ganzen westlichen Balkan soeben erst anrollt, "weil 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung dem alten Jugoslawien noch nachtrauern. Ich habe nicht geglaubt, dass man die letzten blutigen Kriege so schnell hinter sich lassen würde. Alle wünschen sich nun doch ein gemeinsames Leben - nicht durch Änderungen der Grenzen, sondern in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht", betont Joška Broz.
Rund 70.000 Besucher jährlich im Museum der Geschichte Jugoslawiens, auf dem Gelände der ehemaligen Residenz des Präsidenten, mögen dem Broz-Enkel Recht geben. Das Haus hieß früher Tito-Museum und wurde dem beliebten ewigen Staatschef noch während seines Lebens gewidmet. Heute verneigen sich hier Gäste aus aller Welt zuerst im gläsernen Haus der Blumen vor dem Grabmahl Titos aus dicken weißen Marmorplatten. Momo Cvijovic, langjähriger Kurator des Museums, zeigt sich wegen dieser Titostalgie selbst verwundert: "Tito hat den Traum jedes absolutistischen Herrschers erreicht - zu Lebzeiten verherrlicht und gelobt, nach dem Tod weiterhin verehrt. Seine Popularität ebbt auch heute nicht ab, sondern dauert noch an."
Autor: Filip Slavkovic
Redaktion: Nicole Scherschun