Für Frauen ist Angst auf dem Heimweg normal
17. März 2021Wenn die Kölner Studentin Verena Hammermann im Dunkeln zu Fuß unterwegs ist, ist sie wachsam. "Ich laufe nur dort, wo auch ausreichend Straßenbeleuchtung ist, den Schlüsselbund in der Hand. Ich habe mal gehört habe, dass man den auch bei einem Angriff verwenden kann. Und wenn mir eine komische Gestalt entgegen kommt, wechsel ich die Straßenseite." Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen: Ihre Angst kann sie trotzdem nicht ganz abschütteln. "Ich habe auf jeden Fall Respekt vor der Dunkelheit. Ich glaube schon, dass ich mich verteidigen kann, aber in der Not kann man auch in eine Schockstarre fallen."
Nur in der Mitte der Straße laufen, Kapuze über den Kopf, Schlüssel in der Hand, Handy am Ohr: Für viele Mädchen und Frauen ist es völlig normal, solche "Sicherheitsmaßnahmen" zu treffen, wenn sie am Abend oder nachts alleine unterwegs sind.
Auch die 33-jährige Britin Sarah Everard hatte vielleicht "Sicherheitsmaßnahmen" eingehalten. Am 3. März hatte sie am Abend eine Freundin besucht und sich gegen 21 Uhr auf den Heimweg gemacht und dabei noch mit ihrem Freund telefoniert. Einige Tage später wurde sie tot in einem Wald in Kent gefunden. Ein Polizist wurde mittlerweile festgenommen, er steht unter dem dringendem Verdacht, die junge Frau entführt und ermordet zu haben.
Ein Aufschrei im Internet
Der gewaltsame Tod der jungen Frau führte nicht nur zu zahlreichen Mahnwachen und Protesten, sondern auch zu einem Aufschrei in sozialen Netzwerken. Unter dem Hahstag #reclaimthestreets und #sarahaeverard beschreiben Frauen ihre Ängste und Erfahrungen. Vorschläge von Politikern, dass Frauen am Abend am besten zu Hause bleiben sollten, haben die Stimmung zusätzlich aufgeheizt.
"Ich erinnere mich, dass ich einmal nachts meinen Hund ausgeführt habe. Ich fühlte mich krank vor Sorge, als ich merkte, dass ein Mann mir folgte, der jedes Mal stoppte oder seine Richtung wechselte, wenn ich es tat", twittert eine Userin. "Ich gehe raus, mit den Schlüsseln in meiner Hand, ich habe eine Schere dabei für alle Fälle. Das ist einfach nicht richtig."
Auch die britische Influencerin Lucy Mountain veröffentlichte auf Instagram eine Whatsapp-Nachricht, die viele Frauen kennen dürften: "Text me when you get home" ("Schreib mir, wenn du zu Hause bist"). Der Post wurde millionenfach geteilt. "Ich weiß nicht einmal, wie ich das formulieren soll, weil ich das Gefühl habe, dass meine Worte nicht dem gerecht werden können, was viele Frauen gerade fühlen", schreibt Mountain.
Und sie führt fort: "Ich wünschte, mehr Männer würden verstehen, dass wir nachts nicht alleine mit Kopfhörern laufen können. Dass jedes Mal, wenn wir in einen Uber steigen, der Gedanke mitschwingt, das könnte es gewesen sein. Dass, wann immer wir an Gruppen von Männern vorbeigehen, unser Herz ein bisschen schneller schlägt. Dass wir jedes Mal, wenn wir bei sexueller Belästigung auf der Straße zurückschreien, ein weiteres Mal unsere Sicherheit aufs Spiel setzen."
Stadtplanung: Von Männern für Männer
Der Aufschrei unter den Mädchen und Frauen ist wohl auch deshalb so groß, weil es eine Alltagserfahrung vieler Frauen ist, Angst auf öffentlichen Plätzen zu haben. Laut einer Umfrage der Hilfsorganisation Plan International "fühlt sich keine Frau in ihrer Stadt vollkommen sicher", so Mitarbeiterin Anne Rütten im Gespräch mit der DW. Rund 1000 Mädchen und Frauen sollten in dem Projekt "Safe in the City" Orte markieren, an denen sie Angst haben - sei es Hauptbahnhof, Park oder auch Partymeile.
"Im Schnitt hat jede Frau mindestens einen Ort in ihrer Stadt markiert, an dem sie sich nicht sicher gefühlt hat", sagt Rütten. Jede vierte Frau hat in ihrer Stadt sexuelle Belästigung erlebt, jede Fünfte wurde in ihrer Stadt schon Opfer von Verfolgung und Bedrohung. Auch wenn die Umfrage nicht repräsentativ ist: Für Plan International war es wichtig, das Problem überhaupt sichtbar zu machen - gerade weil viele Vorfälle gar nicht angezeigt werden. Auch andere Umfragen, zum Beispiel von deutschen Kommunen, kommen zu dem Ergebnis, dass das Gefühl von Angst und Unsicherheit unter Frauen deutlich größer ist als unter Männern. Genaue Angaben über die Straftaten auf der Straße gibt es nicht, die polizeiliche Kriminalstatistik unterscheidet im Allgemeinen nicht zwischen privatem und öffentlichem Raum, außer bei spezifischen Straßendelikten.
Dass viele Frauen die Stadt als so bedrohlich wahrnehmen, hängt auch mit der Architektur der Innenstädte zusammen, glaubt Rütten. "Mädchen und Frauen sind durch städteplanerische Entscheidungen benachteiligt, weil sie viel zu wenig gefragt werden." Städte wurden jahrzehntelang von Männern für Männer geplant. "Städte sind immer auf Optimierung ausgelegt. Der Nachteil ist, dass Menschen, die nicht dem Idealtypen entsprechen, entsprechend benachteiligt sind", glaubt Rütten.
Dabei könnten schon kleine Veränderungen einen Unterschied im Sicherheitsgefühl ausmachen, etwa indem mehr Straßenlaternen aufgestellt oder Hecken gekürzt werden, damit dunkle Ecken einsehbar sind. Unter dem Stichwort feministische Stadtplanung finden sich viele weitere Ideen, wie man das Sicherheitsgefühl in der Stadt verbessern könnte: Kurzstreckentaxis wie in Berlin können dazu genauso beitragen wie belebtere gemischte Viertel, kurze Wege, belebte Erdgeschosszonen, Aufenthaltsbereiche für Obdachlose. Frauen, die sich mit Handy am Ohr sicherer fühlen, können auch das sogenannte Heimwegtelefon anrufen. Auf der anderen Seite der Leitung geleiten einen die Mitarbeiter auch zu videoüberwachten Straßen.
Auch im Kopf muss sich etwas ändern
Für Rütten von Plan International reicht das aber nicht aus. "Wir müssen auch gucken, dass wir an schädliche Geschlechterstereotype dran kommen. Denn das, wovor Mädchen und Frauen eigentlich Angst haben, ist ja nicht die Dunkelheit der Straße oder weil sie eine Ecke nicht einsehen können. Sondern sie haben Sorge um ihre persönliche Sicherheit - also vor sexueller Belästigung, Diffamierung, Gewalt."
Sie glaubt, dass in unserer Gesellschaft noch immer die Vorstellung vorherrscht, Mädchen und Frauen seien weniger wert als Männer. "Und diese Vorstellung suggeriert Menschen in unserer Gesellschaft, dass es in Ordnung ist, Mädchen und Frauen zu bedrängen, ihnen anzügliche Sprüche hinterher zu rufen oder sie zu beleidigen", sagt Rütten. Auch andere Aktivistinnen wollen das sogenannte Catcalling unterbinden.
"An diese Geschlechterstereotype müssen wir einfach ran und müssen sie aufbrechen, damit sich Mädchen und Frauen nachhaltig in ihrer Stadt sicherer fühlen", so Rütten. Auch in sozialen Netzwerken werden derzeit Anregungen gesammelt, was Männer konkret tun können, um Frauen die Angst zu nehmen: Abstand halten, mit freundlichen Worten überholen, nicht anstarren. Studentin Verena hofft derweil trotzdem, dass sich städtebaulich etwas tut und zum Beispiel auch mehr Notrufsäulen eingerichtet werden, falls mal der Handyakku versagt. "Es könnte noch so viel mehr ausgebaut werden. Für mich wäre es wirklich beruhigend, wenn ich wüsste, ich brauch jetzt hier nur einen Knopf drücken."