Meisterin des Damengambit: Judit Polgár
11. Dezember 2020Wer auf Pomp und Protz steht, ist beim Schach definitiv falsch. Die letzte Weltmeisterschaft fand in einer ehemaligen Londoner Kunsthochschule statt. Die davor in einem renovierten New Yorker Fischmarkt. Jahrzehntelang galt Schach als Randsportart für Nerds, aus Medien und Kultur war es weitgehend verschwunden.
Doch das scheint sich nun zu ändern. Die Netflix-Serie "Das Damengambit" - der Titel bezieht sich auf eine häufig gespielte Schach-Eröffnung - bricht aktuell alle Quotenrekorde des Streaming-Dienstes. Die Geschichte des jungen amerikanischen Waisenmädchens Beth Harmon (Anya Taylor-Joy), das die männerdominierte Schachwelt auf den Kopf stellt, bewegt Millionen von Zuschauern.
Seit Wochen erfährt die Welt einen regelrechten Schach-Boom. Dabei ist Beth Harmons märchenhafter Aufstieg nichts weiter als Fiktion - aus der Feder des US-Schriftstellers Walter Tevis, auf dessen gleichnamigem Roman aus dem Jahre 1983 die Serie beruht. Die Realität sieht anders aus: Nur eine einzige Frau findet sich aktuell unter den Top 100 der Schach-Weltrangliste. Noch nie konnte eine Frau die Weltmeisterschaft gewinnen.
Doch es gab und gibt sie, die weiblichen Schach-Wunderkinder, die die Männer am Brett in ihre Schranken weisen. Bis fast an die Spitze schaffte es jedoch nur eine: die Ungarin Judit Polgár. Als Elfjährige schlug sie zum ersten Mal einen Schach-Großmeister, mit 15 errang sie selbst diesen Titel - und zwar als bis dato jüngste überhaupt. Später spielte sie sich auf Platz acht der Weltrangliste.
Bis heute bleibt sie damit die mit Abstand erfolgreichste Schachspielerin aller Zeiten. 2014 zog sich Polgár aus dem Turnierbetrieb zurück. Heute spielt die 44-Jährige nur noch selten Schach, doch das schwarz-weiße Brett bestimmt weiterhin ihr Leben: Sie trainiert die ungarische Männer-Nationalmannschaft, gibt Meisterklassen, kommentiert große Turniere und hat ein eigenes Schach-Programm für Schüler entwickelt.
Sexismus beim "Damengambit" kaum ein Thema
"Beim Schauen der Serie hatte ich einige Déjà-vu-Momente" sagt Judit Polgár im DW-Gespräch. Die Körpersprache, die Bewegungen, selbst die Spielzüge gebe "Das Damengambit" sehr realistisch wieder. Allerdings thematisiere die Serie die Schattenseiten des Frauendaseins in der Schachwelt zu wenig, meint Polgár.
Tatsächlich begegnen die Männer der aufstrebenden Beth Harmon stets mit Respekt und Anerkennung - und ganz ohne sexistische Sprüche. "In Wahrheit ist es sehr viel schwieriger für Frauen, in dieser Welt herauszustechen", so Polgár.
Ihre männlichen Kontrahenten hätten sich oft nicht eingestehen können, gegen eine Frau verloren zu haben. Sprüche wie "du bist ziemlich gut für ein Mädchen" und Ausreden wie "ich hatte einen schlechten Tag" habe sie immer wieder gehört. Manche Gegner hätten nach einer Niederlage sogar das Brett verlassen, ohne ihr, wie beim Schach üblich, die Hand zu geben.
Bis heute hält sich vor allem bei männlichen Schachprofis die Überzeugung, Frauen seien schlicht nicht in der Lage mit Männern mitzuhalten. Das amerikanische Schach-Wunderkind Bobby Fischer hielt Frauen in den 1970er-Jahren für zu "schwach" und "dumm" für Schach. Und der langjährige russische Schachweltmeister Garri Kasparow sagte 1989: "Schach passt nicht wirklich zu Frauen […] Frauen sind schwächere Kämpfer".
Kasparow, der an der Produktion von "Das Damengambit" als fachlicher Berater beteiligt war, hat seine Aussage mittlerweile zwar zurückgenommen. Dennoch sind solche Ansichten in der Schachwelt immer noch weit verbreitet. Judit Polgár hält sie für Unsinn. "Ich habe es geschafft, warum sollten es andere Frauen nicht schaffen?", fragt sie. Sie glaubt, dass die Geschlechterungleichheit vor allem dadurch zustande kommt, dass Mädchen im jungen Alter weniger gefördert würden als Jungen.
Die Polgár-Schwestern: ein geglücktes "Experiment"
Ganz anders war es bei den Polgárs. Judit und ihre älteren Schwestern Zsuzsa und Zsófia wurden schon von Kindesbeinen an intensiv von ihrem Vater gefördert. László Polgár war überzeugt, dass man mit seiner Methode jedes Kind zum Wunderkind machen könnte. Er unterrichtete seine Töchter zu Hause, das öffentliche Schulsystem lehnte er ab.
Besonders ausführlich lernten die drei Mädchen Schach. Ihr Vater glaubte, hierbei Intelligenz am besten messen zu können. Für Judit und ihre Schwestern bedeutete das sieben Stunden Schach pro Tag. Freunde hatten sie kaum. Ein Problem sei das für sie aber nie gewesen, sagt Polgár. Ihre Schwestern und ein bis zwei Kinder, die sie vom Schachspielen kannte, seien ihr genug "echte Freunde" gewesen.
Was ihr Vater "Experiment" und sie lieber "speziellen Lebensstil" nennt, war jedenfalls erfolgreich: Nicht nur Judit, sondern auch ihre Schwestern wurden international erfolgreiche Schachspielerinnen.
"Ich konnte nur so weit kommen, weil meine Eltern hohe Erwartungen hatten und mich ungeachtet meines Geschlechts gefördert haben", sagt Judit Polgár heute. An ihren eigenen Kindern will sie das "Experiment" nicht fortführen. Sie gehen auf eine internationale Schule in Budapest.
Schach als Teil des Grundschulkurrikulums
Doch sie ist überzeugt, dass Schach eine wichtige Rolle in der Bildung von Kindern spielt. In den vergangenen fünf Jahren hat Polgár zwei Lehrbücher und ein Trainingsprogramm für Vor- und Grundschüler entwickelt. Durch Schach sollen sie Fähigkeiten "fürs Leben" lernen: Kreativität, logisches Denken, Verantwortung, aber auch Mathematik oder Lesen. "Dabei machen wir natürlich keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen", versichert Polgár.
Ihr Programm hat sich bewährt. Es gehört mittlerweile zum nationalen Kurrikulum ungarischer Grundschulen. 2024 findet die Schacholympiade in ihrer Heimat Budapest statt. Ein Nachwuchstalent hat sie für das Turnier schon im Blick: Die junge Ungarin Kata Karácsonyi. Auf der Weltrangliste der unter 14-Jährigen steht sie auf dem ersten Platz.
Nach dem weltweiten Erfolg der Mini-Serie "Das Damengambit" auf Netflix ist allerdings nicht auszuschließen, dass bald noch mehr weibliche Talente die Bestenlisten stürmen werden.