"Macrons Schlüsselmoment"
28. Januar 2019Deutsche Welle: Herr Seidendorf, seit Wochen demonstrieren und blockieren die Gelbwesten im ganzen Land. Jetzt hat sich eine konkurrierende Rotschal-Bewegung gebildet. Was steckt dahinter?
Stefan Seidendorf: Es ist eine Bewegung, die sich etwas aus Frust über die Gelbwesten und ihren wochenendlichen Aufmarsch entwickelt hat - zunächst ausgehend von einer individuellen Initiative, über Facebook organisiert sie sich so ähnlich wie bei den Gelbwesten.
Das Anliegen ist aber ein anderes: Es geht darum, die Gewalt zu stoppen, einen republikanischen Marsch für die Freiheit zu organisieren und "Ja zur Demokratie, nein zur Revolution" zu sagen; ein Stück weit einen Kontrapunkt zur medialen Aufmerksamkeit zu setzen, die die Gelbwesten jedes Wochenende erfahren.
Wie erfolgreich ist dieses Vorhaben bislang?
Dieses Wochenende gab es den ersten Aufmarsch, die erste größere Demonstration in Paris mit etwas über 10.000 Teilnehmern laut Polizeiangaben. Verglichen mit den 4000 Teilnehmern der Gelbwesten in Paris handelt es sich tatsächlich um die größere Demonstration. Auf der Ebene, könnte man sagen, haben sie erst einmal gewonnen. Dieses Wochenende waren aber insgesamt in Paris ziemlich viele Demonstranten auf den Beinen. Es gab auch noch einen „Marsch für das Klima", der auch nochmal über 8000 Menschen mobilisiert hat.
Machen die "Rotschals" die Lage für Präsident Macron einfacher?
Die Präsidentenpartei und die Regierung haben sich sehr stark darum bemüht, nicht mit der Rotschal-Bewegung identifiziert zu werden. Sie soll eben nicht als gelenkte oder gesteuerte Bewegung daherkommen, sondern als eine Bewegung gegen die Gelbwesten aus dem Volk, die genauso wie die Gelbwesten beanspruchen kann „Wir sind das Volk" und verdeutlichen möchte, dass die Stimmung in Frankreich vielfältiger und differenzierter ist als es den Anschein haben mag.
Von daher ist es natürlich eine gewisse Entlastung für den Präsidenten. Die Medien haben sehr stark über diese Entwicklung gesprochen und ihr teilweise sogar mehr Platz als den Gelbwesten eingeräumt. Insgesamt gibt es mit den gewalttätigen Protesten und den Blockaden der Gelbwesten ein gewisses Gefühl des "Es reicht" in Frankreich. Für den Präsidenten ist das ein Schlüsselmoment. Er kann tatsächlich die Oberhand gewinnen über die öffentliche Meinung, und dabei ist diese Bewegung der "Rotschals" natürlich hilfreich.
Eigentlich sollte sich die Wut ja in geordnete Bahnen gelenkt werden. Präsident Macron lässt derzeit eine landesweite Debatte organisieren. Ist der neuerliche Protest ein Beweis dafür, dass die Franzosen die unterschiedlichen Standpunkte am Ende doch lieber auf der Straße "ausfechten" wollen?
Da kommt vielleicht beides zusammen: Die große Debatte mit den verschiedenen Veranstaltungen ist natürlich medial schwierig zu transportieren. Es ist einfach nicht so spektakulär, als wenn jemand ein Feuerwerk abbrennt oder die Barrikaden brennen – das erscheint in den Abendnachrichten natürlich viel spektakulärer.
Seit dem Auftakt dieser großen Debatte in Frankreich Mitte Januar steht tatsächlich die öffentliche Meinung ein Stück weit unentschieden vor den verschiedenen Pfaden, die eingeschlagen werden können. Es gibt durchaus Sympathien für einen strukturierten politischen Prozess, um die Krise zu überwinden. Von daher ist es nicht gesagt, dass die Gelbwesten tatsächlich medial im Vordergrund bleiben.
Gehen Sie davon aus, dass am Ende diese beiden Bewegungen auch die französische Parteienlandschaft verändern werden?
Beide Bewegungen sind erst einmal eine Konsequenz dieses großen Umbruchs in der Parteienlandschaft, die wir in den Präsidenten- und Parlamentswahlen 2017 gesehen haben. Aber es ist natürlich ein Ausdruck eines länger zurückreichenden Umbruchs in der französischen Gesellschaft, die immer stärker gespalten ist. Von daher sind beides politische Bewegungen, politische Kräfte, aber natürlich bisher noch nicht strukturiert oder organisiert.
Es ist sehr fraglich, wie sich diese Bewegungen im Vergleich zu den etablierten Parteien stellen können. Die etablierten Parteien gibt es ja nach wie vor - wenn auch nach den Parlamentswahlen 2017 gerupft und geschüttelt. Bis jetzt ist es keiner Gruppierung wirklich gelungen, diese Bewegungen für sich zu vereinnahmen - weder Links- noch Rechtsextremisten und auch nicht der bürgerlichen Opposition. Wir müssen uns etwas gedulden, um sagen zu können wie die Entwicklung weitergehen wird.
Dr. Stefan Seidendorf ist seit 2014 stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg (dfi). Er ist verantwortlich für die Europaabteilung
Das Gespräch führte Andreas Noll.