Krise im Libanon
19. Juli 2015Es ist ein heißer Donnerstagvormittag in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Vor dem Regierungsviertel stauen sich Dutzende Autos, aus denen junge Frauen und Männer orange Fahnen schwenken. Sie sind allesamt Anhänger der christlichen Freien Patriotischen Bewegung (FPB) und sammeln sich zum Protest.
"Wir sind hier, um die Rechte der Christen im Libanon zu schützen", sagt die 23-jährige Studentin Joel, die zusammen mit ihren Freundinnen Plakate des FPB-Parteivorsitzenden Michel Aoun hochhält. "Die da oben dürfen nicht länger über unsere Köpfe hinweg entscheiden", fügt der 21-jährige Anton hinzu, der sich der Gruppe von Frauen anschließt. Die da oben, damit meint er das libanesische Kabinett, das keine hundert Meter weiter im Grand Serail, dem Regierungssitz des libanesischen Ministerpräsidenten, tagt. Die Demonstranten verlangen, dass der Libanon endlich einen neuen Präsidenten bekommt, aber nicht irgendeinen - sie wollen ihren Präsidenten und rufen aus voller Kehle: "Gott, Libanon und Aoun; mehr brauchen wir nicht."
Im Libanon herrscht eine sogenannten Konkordanzdemokratie, in der politische Amtsposten je nach konfessioneller Zugehörigkeit vergeben werden. Das Staatsoberhaupt ist demnach immer ein maronitischer Christ, da die Maroniten, neben Orthodoxen und Katholiken, die größte christliche Gemeinde im Libanon stellen. Seit dem Amtsende des Präsidenten Michel Suleiman im Mai 2014, konnten sich jedoch die Regierungsparteien und die Opposition nicht auf einen Kandidaten einigen. "Michel Aoun, der gerne Präsident werden würde, will nun die Christen im Land für seine Zwecke mobilisieren, indem er ihnen sagt, dass ihre Rechte von der jetzigen Regierung beschnitten werden", sagt Libanonexperte Mario Abou Zeid vom Carnegie-Nahostzentrum in Beirut.
Die Angst wächst
Mit der Aussage schürt Aoun die Ängste der libanesischen Christen, die mit Sorge nach Syrien und Irak blicken, wo der "Islamische Staat" ihre Glaubensbrüder brutal verfolgt. Konfrontiert mit der katastrophalen Situation in Nahost wollen christliche Parteien einen politischen Machtverlust im Libanon unbedingt verhindern: "Der libanesische Präsident ist das einzige christliche Staatsoberhaupt im gesamten Nahen Osten. In Anbetracht der religiös motivierten Verfolgung gilt der Libanon als die letzte Hoffnung für das Christentum auf der arabischen Halbinsel", sagt Abou Zeid.
Dabei hängen alle Hoffnungen an einer einfachen Rechnung: Der politische Einfluss der libanesischen Christen ist im Taif-Abkommen von 1989 verankert, das den 15-jährigen Bürgerkrieg im Libanon beendete. Muslime und Christen einigten sich in dem Friedensvertrag auf eine 50:50 Repräsentationsquote im libanesischen Parlament. In der Theorie sollte das ein ausgewogenes Machtverhältnis garantieren. Jedoch wurde das Taif-Abkommen nie vollständig umgesetzt. Das lag mitunter an der politischen Einmischung des syrischen Regimes, das seine Truppen bis 2005 nicht aus dem Libanon abzog. Besonders die Maroniten litten in diesem Zeitraum unter den Syrern, nachdem sie sich zum Ende des Bürgerkriegs gegen die syrische Armee aufgelehnt hatten. Die Konsequenz: Aoun, der damals einen Befreiungskrieg gegen die syrische Besatzung führte, flüchtete für 15 Jahre ins französische Exil. Sein Widersacher Samir Geagea, Anführer einer anderen christlichen Miliz, wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
"Keiner war ohne Schuld im Bürgerkrieg. Auch die Christen mussten die Konsequenzen tragen", findet Maroun. Der 72-Jährige sitzt, knapp einen Kilometer vom Grand Serail entfernt, in seiner schummerigen Autowerkstatt. An einer Kette um seinen Hals baumelt ein goldenes Kreuz. An der Wand hinter ihm hängen Bilder von seinem Sohn, dessen Frau und Kindern. Die kleine Familie lebt weit weg in Amerika. Dorthin wanderte Marouns Ältester nach dem Bürgerkrieg aus.
Kampf um Einfluß
Aufgrund der Repressionen durch die Syrer, emigrierten viele Christen zwischen 1990 und 2005. Um die Quote im Taif-Abkommen zu schützen, forderten christliche Institutionen die Auswandererfamilien auf, ihre Staatsangehörigkeit und damit ihre konfessionelle Zugehörigkeit zu registrieren. Mit mäßigem Erfolg: Studien zufolge werden die Christen im Libanon heute auf nur noch 40 Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt - 50 Prozent weniger als noch vor einhundert Jahren. Der demografische Wandel und die vakante Präsidentschaft könnten den Schiiten und Sunniten in die Hände spielen. Die schiitische Regierungspartei Hisbollah hat bereits eine Änderung der Verfassung vorgeschlagen, mit einer gleichmäßigen ein Drittel Machtverteilung für Christen, Sunniten und Schiiten.
Dass die libanesische Verfassung in Zeiten der politischen Krise antastbar ist, zeigte sich Ende vergangenen Jahres, als das Parlament sein Mandat bis 2017 verlängerte. Auch das Mandat des Armeechefs wurde erneuert - der Stein des Anstoßes für den Konflikt zwischen der Regierung und Aoun, der gerne seinen Schwiegersohn auf dem Posten sehen würde. Der sunnitische Premierminister Tammam Salam lehnt jedoch eine Neuwahl zum jetzigen Zeitpunkt ab. Deshalb drohen die Minister der FPB, die Arbeit des Ministerrats zu blockieren. Außerdem erscheinen ihre Parlamentsmitglieder nicht mehr zu den Präsidentschaftswahlen. Abou Zeid sieht die Entscheidung der FPB als äußerst kontraproduktiv für das erklärte Ziel Aouns: "Sie sagen den Christen, dass ihre Rechte beschnitten werden und schmälern selbst die christliche Repräsentation im Parlament und im Kabinett. Damit sind sie politisch marginalisiert."
Im Vorfeld der Konfrontation mit der FPB gab es noch Grund zur Hoffnung, dass sich die politische Krise bald lösen ließe. Michel Aoun und Samir Geagea, heute Parteichef der christlichen Lebanese Forces (LF), legten ihre über 30 Jahre währende Rivalität bei. Im Bürgerkrieg hatten sich beide Warlords bis aufs Blut bekämpft und nach 2005 den Kampf auf die politische Bühne verlagert. Auch Geagea kandidiert für die Präsidentschaft. Gemeinsam schlagen sie vor, dass die libanesischen Christen in einer Abstimmung entscheiden sollen, wen sie als Präsidenten bevorzugen.
Maroun würde sich für keinen der beiden Kandidaten entscheiden. Auf dem flimmernden Bildschirm seines kleinen, staubigen Fernsehers verfolgt er die Demonstrationen der sogenannten Aounisten und schüttelt den Kopf. Der Bürgerkrieg und die Nachkriegszeit haben ihm eines gelehrt: "Religion und Politik gehören nicht zusammen. Christentum ist kein Protestzug. Ich bin in erster Linie Libanese und dann Christ. Dasselbe erwarte ich von meinem Präsidenten."