Die Rückkehr der Christen
28. März 2015Alfred Khoury sitzt auf der maroden Terrasse eines Hauses. In den vergangenen 30 Jahre stand es leer. Von den Außenwänden blättert die blaue und gelbe Farbe ab. Doch es ist das Innere des Hauses, dem Khoury seine Hauptaufmerksamkeit widmet. Er baut weitere Stockwerke auf das alte Mauerwerk. "Ich bin hier groß geworden und habe so viele schöne Erinnerungen an dieses Haus", erzählt Khoury, die Hände von Baustaub überzogen. "Meine Freunde und ich haben hier viel gefeiert, mit Arrak und Taboulé. Es gibt nichts Schöneres, als wieder in dein Heimatdorf zurückzukehren. Es ist der Ursprung von allem. Es ist mein Dorf."
Khourys Haus liegt in Brih, einem Dorf in der Schuf-Region, dem südlichen Ausläufer des Libanongebirges. Am 5. April verdoppelt sich die Einwohnerzahl Brihs. Bis dahin werden 3000 ehemalige Dorfbewohner - allesamt Christen - zurückgekehrt sein, um die Häuser wiederaufzubauen oder zu reparieren, die sie vor 32 Jahren verlassen mussten. Brih ist die letzte von insgesamt 90 Orten im Libanon, die Teil eines staatlichen Wiederbesiedlungsprojekts sind.
Ort eines Massakers
Schätzungsweise 260.000 Christen flohen seit dem Ausbruch des sogenannten Berg-Krieges im Jahr 1983 aus der Schuf-Region. Im Kampf um die Kontrolle über die Region standen sich Drusen und ihre christlichen Nachbarn gegenüber. Viele Christen flohen letztlich in das rund 50 Kilometer entfernte Beirut.
"Das ist ein unbeschreibliches Gefühl", sagt Alfred Khoury über seine Rückkehr nach Brih. "Niemand hat damit gerechnet, dass es jemals dazu kommt. Vor allem nach dem, was hier passiert ist." In 15 Jahren Bürgerkrieg hat Brih einen hohen Blutzoll gezahlt. Dazu gehört insbesondere das Massaker in der St. Georgs-Kirche im Jahr 1977. 13 Christen wurden damals beim Gebet in der Kirche mit automatischen Waffen niedergemäht. Nachdem die anderen Christen aus dem Dorf geflohen waren, verfielen ihre Häuser oder wurden zerstört.
Inzwischen sind die Zeichen des Wiederaufbaus in Brih ebenso allgegenwärtig wie die Zeichen der Zerstörung. Einige Einwohner beklagen, dass die alten Gebäude zu bereitwillig abgerissen und durch neue Häuser ersetzt werden, anstatt die seit Jahrzehnten leer stehenden, alten Häuser zu renovieren.
Ein neues Kapitel
Obwohl die alten Häuser abgerissen werden, ist kein Denkmal zur Erinnerung an die brutalen Ereignisse des Bürgerkrieges geplant. Selbst die Erinnerungen der Vertriebenen scheinen unerwünscht. Über den Krieg werde kaum gesprochen, sagt Alfred Khoury. Er versucht, sich auf die guten Jahre im Dorf während seiner Jugend zu fokussieren. "Was geschehen ist, ist wie eine Wolke", sagt er. "Nun ist sie vorübergezogen."
Für Khoury zählt der Blick nach vorn. Denkmäler findet er nicht so wichtig wie Bildung. "Wir sollten hier eine Schule errichten. Aber nicht irgendeine Schule, sondern eine Musterschule für die Region", sagt er. "Derzeit gibt es in Brih 400 Kinder und Jugendliche, die außerhalb des Dorfes zur Schule gehen. Für mich ist eine Schule sogar wichtiger als ein Gotteshaus. Sie stärkt die Beziehung zu deiner Heimat."
Auf der Terrasse neben Khoury sitzt Khaled Boazzidin. Der Druse wohnt in Brih und ist Mitglied eines lokalen Komitees, das sich um die Belange der Rückkehrer kümmert. Wenn es um die Rückkehr der Christen nach Brih geht, ist er standhaft optimistisch. Es sei ein neues Kapitel. "Natürlich möchte ich, dass die Christen zurückkommen. Diese Menschen waren meine Nachbarn und meine Freunde", sagt er. "Ich möchte, dass wir wie früher zusammen leben. Alle Drusen hier wollen, dass die Christen wiederkommen. Das ist ihr Recht!"
Verfrühte Rückkehr?
Khaled Boaziddin und Alfred Khoury sind sich einig, dass die von der libanesischen Regierung gesetzte Frist mehr Schaden anrichtet als sie Nutzen bringt. Bis zum 5. April müssen 3000 Menschen ihre Unterkünfte in Beirut verlassen und nach Brih zurückkehren. Es gibt aber keine Unterkünfte für sie - über ein Anfangsstadium sind die meisten Bauvorhaben noch nicht hinaus.
Generell sei die Infrastruktur in Brih schlecht, sagt Khoury. Die Industrie der Stadt liegt seit dem Bürgerkrieg weitgehend am Boden. Brih braucht neue Telefonleitungen und andere Grundausstattung. Vor allem werden aber Krankenhäuser und weitere wichtige öffentliche Dienste benötigt. Zudem mangelt es an Schulen. "Das Schuljahr ist noch nicht vorbei", sagt Boazzidin. "Sie hätten die Deadline für Juli beschließen sollen, oder zumindest zum Ende des Schuljahrs."
Die libanesische Regierung stellt über einen Vertriebenenfonds Gelder für den Wiederaufbau zur Verfügung. Eingerichtet wurde er 1993 im Rahmen des sogenannten Taif-Abkommens, das den libanesischen Bürgerkrieg 1989 beendet hatte und für eine Machtteilung sorgte. Der Fonds bewilligt 20.000 US-Dollar (18.360 Euro) in zwei Raten. Gezahlt wird pro Haus, nicht pro Person. Wenn ein Familienmitglied bereits die Zuteilung für den Bau eines Hauses nutzt, erhalten andere für dieses Haus keine weitere finanzielle Unterstützung.
Einwohner wie Khoury wissen nicht, wann überhaupt Geld bei ihnen ankommt. Er lacht, wenn er nach der Unterstützung der Regierung gefragt wird. "Ich bezahle alles aus meiner eigenen Tasche, so weit es eben geht. Der Staat hat mir bisher nichts bezahlt. Dabei wäre es seine Pflicht", findet Khoury. "20.000 Dollar reichen bei weitem nicht aus", ergänzt er. "Der Wiederaufbau dieses Hauses kostet mindestens 100.000 Dollar. Die 20.000 Dollar decken gerade einmal die Grundkosten für ein Stockwerk des Hauses. Alles ist teuer - Material wie auch Arbeiter." Ein Lichtblick für Khourys ist, dass sein Haus wenigstens noch steht. Andere Rückkehrer müssen ihre Häuser vom Fundament angefangen wiedererrichten.
"Zu wenig staatliche Hilfe"
In Beirut erinnern sich Abbas Lahoud und seine Familie an den Beginn des Bürgerkrieges und das Massaker in der St. Georgs-Kirche. Die düsteren Erinnerungen an den Krieg machen ihnen zu schaffen. Doch die Hindernisse, die sie von der Rückkehr nach Brih abhalten, sind für sie sogar noch schlimmer. Seit sie aus Brih fliehen mussten hat die Familie dieselbe Unterkunft in Sin el-Fil bewohnt. Miete mussten sie nie bezahlen. Ein libanesisches Gesetz schützt die Vertriebenen davor. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie wieder in ihre Heimat umgesiedelt werden.
"Am 5. April werden sie uns hier rausschmeißen", sagt ein Verwandter der Lahouds verärgert. "Wohin sollen wir gehen? Es ist mitten im Schuljahr. Das Ministerium hat uns Unterstützung für zwei weitere Monate angeboten, aber nicht mehr. Und es ist immer noch Winter. Wie können wir da zurückkehren und mit dem Wiederaufbau beginnen?" Ihre Namen möchten die Verwandten der Lahouds nicht öffentlich nennen. Sie haben Angst, sie könnten mit dieser Thematik in Verbindung gebracht werden. Die Lahouds sind ebenfalls skeptisch, ob die finanzielle Unterstützung der Regierung rechtzeitig eintrifft, damit sie nach Brih umsiedeln können. Die 20.000 US-Dollar von der Regierung wollen sie daher zunächst für eine Anzahlung auf eine Wohnung in Beirut nutzen.
"Ich habe mich immer entwurzelt gefühlt", sagt Abbas Lahoud. Christen und Drusen könnten ihre Differenzen überwinden, glaubt er. "Wir sind schließlich gemeinsam zur Schule gegangen." Ein anderes Familienmitglied ist weniger optimistisch. Der 27-Jährige wurde erst nach der Flucht aus Brih geboren. Er will aber zurückkehren und ein Haus in der Heimat seiner Familie bauen - so er denn die Möglichkeit dazu hat. "Bis vor kurzer Zeit konnten wir Brih überhaupt nicht besuchen", klagt er. "Es war die politische Einigung im vergangenen Mai, die alles geändert hat." Die Regierung sei vor allem auf einen PR-Erfolg aus. Doch die finanzielle Unterstützung bemesse sich gemäß Gesetz immer noch an den Preisen von 1993.
"Wir möchten zurückkehren und vergessen können, aber die Regierung hilft uns dabei nicht", klagt er. Für ihn sind die Bürokratie und das Fehlen verlässlicher und tragfähiger finanzieller Unterstützung dafür verantwortlich, dass er nicht das Haus bauen kann, dass er sich so sehr wünscht. "Man könnte sagten, wir sind immer noch Opfer des Bürgerkriegs."