Lebenslänglich für Serienmörder Högel
6. Juni 2019Lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld: Das Landgericht Oldenburg hat Niels Högel im sogenannten "Jahrhundertprozess" schuldig gesprochen. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass der frühere Krankenpfleger 85 Menschen ermordete. Eine vorzeitige Entlassung Högels auf Bewährung nach 15 Jahren Haft scheidet bei diesem Urteil in der Regel aus. In 15 weiteren Fällen wurde er freigesprochen. Angeklagt worden war er in 100 Fällen. Der 42-Jährige stand bereits vor diesem Prozess zweimal wegen einzelner Taten vor Gericht und wurde wegen sechs Patiententötungen verurteilt.
Das Gericht musste über den schlimmsten Serienmord der bundesdeutschen Geschichte urteilen. Begangen an Männern und Frauen, die schwer krank waren oder auf ihre baldige Heilung hofften. Menschen zwischen 34 und 96 Jahren, die sich in ihrem Leid einem Krankenhaus anvertrauten, deren Lebenswege dort aber jäh endeten. Mit dem Urteilszusatz der "besonderen Schwere der Schuld" legt die Justiz nach 15 Jahren fest, wie viel Strafe noch verbüßt werden muss, bis der Verurteilte auf Bewährung entlassen werden kann. Er kommt erst dann frei, wenn er nicht mehr als gefährlich gilt. In der Regel werden nicht mehr als zehn zusätzliche Jahre verhängt.
Richter als "Buchhalter des Todes"
Richter Sebastian Bührmann sagte bei der Erläuterung zur Urteilsverkündung, dass "das Verfahren und die Taten jegliche Grenzen und jeglichen Rahmen überschreiten." Er verwies auf das Rechtssystem in den USA, wo anders als in Deutschland Einzelstrafen addiert würden. Bei 85 Morden und 15 Jahren wären dies 1275 Jahre, rechnete Bührmann vor. Högel habe Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr getötet. "Ich kam mir vor wie ein Buchhalter des Todes", sagte der Richter.
85 Morde. Hinter dieser Zahl stehen noch viel mehr Angehörige, deren Leben ein brutaler Schlag versetzt, wenn nicht sogar zerstört wurde. Was mögen sie bei der Urteilsverkündung gedacht und gefühlt haben? Empfinden sie das Urteil angesichts Högels monströser Verbrechen als angemessen; vielleicht sogar als gerecht? Fakt ist: Ein Gericht kann nur Recht sprechen, keine Gerechtigkeit. Das gilt in besonderem Maß für diesen Fall.
Zwischen den Jahren 2000 und 2005 schwang sich Niels Högel zum Herrn über Leben und Tod auf. In den Krankenhäusern von Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen spritzte er Patienten Medikamente in lebensgefährdender Dosierung, um sie nach dem Herz-Kreislauf-Versagen wiederzubeleben. Anschließend ließ er sich als Retter feiern. Doch immer wieder versagten Högels perfide Rettungsmanöver - mit tödlichem Ausgang. Er sei bei Reanimationen immer einer der ersten gewesen und "hat andere weggedrängt, die eigentlich zuständig waren", erinnerte sich ein pensionierter Pfleger als Zeuge vor Gericht, Junge und unerfahrene Ärzte seien jedoch auch froh gewesen, dass er geholfen habe. "Rettungs-Rambo" nannten ihn seine Kollegen.
Auf frischer Tat ertappt
Dass der Serienmörder im Juni 2005 aufflog, ist Pflegern in Delmenhorst zu verdanken, die ihn dabei erwischten, wie er auf der Intensivstation die Spritzenpumpe eines Patienten manipuliert. Dem Grauen wurde endlich ein Ende gesetzt - nach fast fünf Jahren. Anfangs ging es in den Ermittlungen um versuchten Totschlag, später war von drei Morden die Rede, dann kamen weitere Verdachtsmomente und Beweise für Morde hinzu. Högel gab sich vor Gericht scheinbar kooperativ, gestand seine Taten allerdings nur insoweit man sie ihm nachweisen konnte. Dafür wurde er im Februar 2015 das erste Mal zu lebenslanger Haft verurteilt.
Doch nachfolgende Untersuchungen und Obduktionen an toten Patienten, deckten das wahre Ausmaß seiner Taten auf. Im jetzt beendeten Prozess vor dem Landgericht Oldenburg, der Ende Oktober 2018 begann, legte ihm die Oberstaatsanwaltschaft mittlerweile 97 Morde zur Last, für drei weitere fehlten die Beweise. Die Leichname vieler anderer potenzieller Opfer konnten wegen ihrer Einäscherung nicht untersucht werden. Die beispiellose Mordserie könnte also noch größer gewesen sein. Högel gestand 43 Taten, an die anderen konnte oder wollte er sich nicht erinnern, fünf stritt er ab.
Den Kick bei Notfällen gesucht
Als Högel während des Prozesses auf diese Mordvorwürfe einzeln angesprochen wurde, antwortete er wiederholt lapidar: "Keine Erinnerung, aber kann ich nicht ausschließen." Der Angeklagte habe nicht über "Mitleid und Reue geredet, sondern nur von Erstaunen und Verwunderung, was alles möglich ist", schrieb ein Gerichtsreporter der Süddeutschen Zeitung. Er wisse auch nicht, wann er so mutiert sei, sagte Högel während des Prozesses in Oldenburg. Er habe sich an den Profis in der Intensivstation orientiert, "die auch schon ihre Menschlichkeit verloren hatten."
Nach den Plädoyers hatte Högel am vergangenen Mittwoch das letzte Wort. Er entschuldige sich bei allen, “über die ich Schmerz und unsägliche Trauer gebracht habe. Als ich Menschen das Leben nahm, habe ich unzähligen Angehörigen das Wertvollste genommen.“ Aussagen, die er mit monotoner Stimme vom Blatt ablas. Opfer-Angehörige äußerten sich anschließend den Medien gegenüber bestürzt und wütend. Sie glaubten keines seiner Worte.
Analyse der Mord-Motive
Was für ein Mensch ist Högel? So viel man weiß, hatte er eine glückliche Kindheit, eine unbeschwerte Jugend und führte später ein weitgehend unauffälliges Leben. Es gibt keine Hinweise auf belastende Traumata. Allein der Blick in seine Vergangenheit lässt die Frage nach seinen Motiven für das Verbrechen unbeantwortet. "Högel ist ein extrem narzisstischer Mensch, der viel Stabilität für sein labiles Ego aus äußerer Anerkennung von Kolleginnen und Kollegen bezogen hat", sagt der Psychiater Karl Beine im Gespräch mit der DW zur Motivlage.
Högel habe diese Notfallsituationen schließlich mutwillig herbeigeführt, "weil er anschließend glänzen wollte, weil er nach erfolgreicher Reanimation den Kick haben wollte." Der Chefarzt des St. Marien-Hospitals in Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke befasst sich seit 25 Jahren mit dem Thema Patiententötungen in Kliniken und Heimen. Beine bezeichnet Högel als verrohten und abgestumpften Menschen mit einem erheblichen Defizit an Empathie und Mitgefühl.
Der Blick in einen Abgrund
"Ich vermute, dass er bis heute keine wirkliche Ahnung von dem unvorstellbaren Leid hat, das er über die Familien seiner Opfer gebracht hat", sagt der Chefarzt. Es tue sich ein Abgrund auf, "bei dem man letzten Endes die Motive nicht im Detail erfahren wird." Nach dem Urteil bleiben also Fragen offen. Auch weil die juristische Aufarbeitung seiner Taten mit dem Urteil keineswegs abgeschlossen ist. Im Zusammenhang mit dem Serienmord werden die Rolle und das Verhalten des Klinikpersonals aus Oldenburg und Delmenhorst untersucht.
Gegen einige von Högels ehemaligen Kollegen laufen Ermittlungen. Geklärt werden soll, wieso er nicht früher gestoppt wurde und warum die Kontrollmechanismen dermaßen versagten. So war der frühere Krankenpfleger in Oldenburg zwar wegen der gestiegenen Todeszahlen während seiner Schichten unter Verdacht geraten und aus dem Dienst in der Intensivstation herausgenommen worden. Trotzdem bekam er ein gutes Zeugnis, konnte zur Klinik nach Delmenhorst wechseln und dort weitere Menschen umbringen.
Vertuschung nach Verdachtshinweisen
"Es wurden ernsthafte Frühwarnzeichen oder ernsthafte Verdachtshinweise nicht zur Kenntnis genommen, ignoriert oder sogar vertuscht", urteilt der Psychiater Beine gegenüber der DW. Das habe nichts mehr mit dem Versagen von Kontrollmechanismen zu tun, sondern damit, "dass man versucht hat, das vordergründige Wohl des eigenen Krankenhauses über das Interesse der Patientinnen und Patienten zu stellen."
Beine weist ergänzend darauf hin, dass die Anzahl des Personals deutscher Kliniken in den vergangenen zwanzig Jahren gesunken ist, bei einer gleichzeitig steigenden Patientenzahl. Es gebe deshalb ein Ausmaß an Arbeitsbelastung, das Krankenhäuser fehleranfällig mache. "Solche langen Tatzeiträume und solche hohen Opferzahlen sind sicher auch erklärbar, durch das hohe Maß an Belastung." Faktoren, die Högels Mordserie begünstigten.