Kein Tag ohne neue Schreckens-Nachricht. Die katholische Kirche auf Weltebene wird ein weiteres Mal - oder nach wie vor - erschüttert von Berichten über Missbrauch und sexuelle Gewalt durch Geistliche an Schutzbefohlenen. Und es drängt sich die Vermutung auf, dass die Kirche trotz guter Worte und diverser Regelungen immer noch erst am Anfang steht. Weil der Wille zur Aufklärung und Ahndung fehlt. Das ist erschütternd.
Ein Papst in Distanz zum römischen System
Als sich der Argentinier Jorge Mario Bergoglio im März 2013, vom Konklave frisch gewählt, erstmals als Papst Franziskus der Welt präsentierte, sagte er lächelnd, die Kardinäle seien "bis ans Ende der Welt" gegangen, um den Nachfolger von Benedikt XVI. zu finden. Ja, viele der Neuerungen von Franziskus zeigen, wie weit er als Seelsorger und konservativer Reformer vom römischen System entfernt bleibt. Doch nun zeigt ausgerechnet die Kirche in zwei Ländern am Ende der römischen Welt, in Chile und Australien, wie weit entfernt jene Neuerungen noch sind, die zumindest Teile der römischen Zentrale anstreben.
Papst Franziskus hatte im Januar Chile besucht und Hinweise auf bedrückende Missbrauchs-Fälle - salopp gesagt - abgetan. Da hatte er ganz augenscheinlich die falschen Berater. Für sein Verhalten hat sich das Kirchenoberhaupt Monate später mehrfach ausdrücklich entschuldigt. Und von höchster Stelle eine Aufarbeitung in Gang gesetzt, die in der Kirchengeschichte ohne Beispiel ist: Franziskus schickte einen Sondergesandten nach Chile. Er selbst nahm sich viel Zeit für Gespräche mit mehreren "Überlebenden" (so die treffende Bezeichnung für die einstigen Opfer) im Vatikan. Er bestellte alle chilenischen Bischöfe nach Rom ein, die ihm anschließend geschlossen ihren Rücktritt anboten. Und Anfang Juni kommt Franziskus erneut mit Opfern zusammen - Geistlichen, die selbst Opfer eines notorischen Straftäters im Priesterrock wurden.
Die Lage der Kirche in dem sehr katholisch geprägten Chile weckt Erinnerungen an Irland: den Niedergang der dortigen Kirche, den Verlust ihrer Autorität, den stillen Abschied der Gläubigen angesichts des Öffentlichwerdens von jahrzehntelangem systematischem Missbrauch in katholischen Schulen und Heimen.
Bischöfe erstmals vor weltlichen Gerichten
Am anderen Ende der Welt: Australien. Dort wurde in dieser Woche weltweit zum ersten Mal ein Erzbischof von einem Gericht in Adelaide der Vertuschung von Missbrauchsfällen für schuldig befunden. Das Strafmaß folgt im Juni. Knapp 700 Kilometer weiter, in Melbourne, wurde Anfang Mai das Gerichtsverfahren gegen Kardinal George Pell eröffnet. Nicht wegen Vertuschung, sondern unter dem Vorwurf, direkter Täter zu sein: sexueller Missbrauch an Minderjährigen. Pell, der seit einem knappen Jahr Australien nicht verlassen darf, bestreitet die Vorwürfe. Egal, wie das Verfahren ausgeht: Seine kirchliche Karriere - der 76-Jährige ist seit 2014 so etwas wie der Finanz-Minister des Vatikan und damit einer der wichtigsten Gestalten im Streben des Franziskus nach Transparenz - ist vermutlich beendet.
Chile, Australien - beide Vorgänge finden weltweit Beachtung in den Medien. Sie zeigen, wie weit der Weg noch ist, den die Kirche unter Papst Benedikt XVI. eingeschlagen hat und den seit 2013 Papst Franziskus intensiviert fortsetzt. In Deutschland kam das Thema im Jahr 2010 mit Wucht auf, angestoßen von einer kirchlichen Bildungseinrichtung. Die deutschen Bischöfe nahmen sich des Themas mehr oder weniger entschlossen an - und haben nun doch alle paar Wochen mit neu bekanntwerdenden Altfällen und Versäumnissen zu tun. Auch in Deutschland ist der Weg der Aufarbeitung und der Sensibilisierung noch weit.
Kaum Verfehlungen in katholisch geprägten Ländern?
Aber gerade Chile zeigt, wie zögerlich, ja widerwillig die Aufklärung in vielen Teilen der Welt verläuft. Aus der Mehrzahl der katholisch geprägten Länder weltweit werden kaum Missbrauchsfälle bekannt. Das ist, gelinde gesagt, merkwürdig.
Mache sich niemand etwas vor: Das Thema Missbrauch hat die katholische Kirche erschüttert und erschüttert sie noch. Franziskus, ihr oberster Seelsorger, zeigt am Beispiel Chile, was er persönlich für notwendig hält und stellt die "Überlebenden" in den Mittelpunkt. Aber die Kirche, diese Organisation von Macht und Geist kann daran innerlich zerbrechen. Zumindest innerlich.
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