Kolumne: Obdachlose in der Berliner Kälte
26. Dezember 2016"Hilfe, wie überleben wir in Berlin den Winter?", lese ich vor wenigen Tagen im Berliner "Tagesspiegel". Ich denke gleich, dass es in diesem Artikel um das Elend der tausenden Berliner Obdachlosen geht. Doch Fehlanzeige. Mit keinem Wort werden sie erwähnt. Der Autor schreibt einfach über sie hinweg. Stattdessen erfahre ich, dass Berlin in der dunklen Jahreszeit "pudelmützenbunt" ist und dass Deutschlands meist aufgeführter Theaterautor und Berlin-Bürger Roland Schimmelpfennig unter Winterdepressionen leidet. Fazit: Statt Überlebensfragen Überflussphrasen. Dabei sind Obdachlose in Berlin gar nicht zu übersehen.
Obdachlose bewusst sehen
Bisher war ich auch Verdrängungskünstler, hatte diese Menschen meistens aus sicherer Entfernung wahrgenommen. Zum Beispiel vor dem Supermarkt. Man tut dann so, als sähe man sie nicht. Oder murmelt etwas von "habe kein Geld" und schaut schnell weg. Manchmal wirft man auch ein paar Münzen in die Dose. Aber ins Gesicht blicken?
Diese Gedanken schießen mir durch den Kopf, als ich Debora Ruppert treffe. Sie lebt seit 2007 in Berlin, ist studierte Theologin und arbeitet als Fotografin. In ihrer Bildserie "Streetlife Berlin" hat sie Obdachlose porträtiert. Ihr Herz schlage für Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, sagt mir die junge Frau mit viel Wärme in der Stimme.
Die Fotos berühren mich tief. Denn in ihnen zeigt Ruppert, wie das Leben die Gesichter der Menschen gezeichnet hat. Das, was man nicht wahrnimmt, wenn man wegsieht. Da ist zum Beispiel ein Mann mit Zigarette im Mund, der verschmitzt in die Kamera blinzelt. Er nennt sich Teufe und kommt aus Osteuropa. Mit ihm hätte ich gerne geredet. Debora Ruppert konnte sich nur mit Händen und Füßen mit ihm verständigen. Ganz anders wirkt das Porträt einer Frau, die fragend in die Kamera blickt. Als sie die Frau fotografiert habe, erzählt Ruppert, sei sie umgeben von Männern gewesen, die alle gefixt hätten. Ich schaue in das Gesicht der Frau und frage mich, was sie wohl alles erlebt hat.
Berlin: Zufluchtsort für Osteuropäer
Deborah Ruppert hat die Obdachlosen an den verschiedensten Orten getroffen: Am Bahnhof Zoo, am Alexanderplatz, im Tiergarten, am Spreeufer. 4000 bis 7000 leben laut Schätzungen in Berlin. Der Senat geht von weniger Obdachlosen aus, hat aber keine genauen Zahlen, wie mir eine Sprecherin am Telefon bestätigt. Ich frage mich, wie der Senat wirksam helfen will, wenn er noch nicht einmal statistische Grundlagen hat.
Die Sprecherin weiß nur, dass es jedes Jahr mehr Obdachlose werden. Sie sagt, dass Berlin Zufluchtsort für viele Menschen aus Osteuropa geworden sei. Auch sonst unterscheidet sich die deutsche Hauptstadt von anderen deutschen Städten: Hier gibt es mehr Obdachlose als irgendwo sonst in Deutschland - und im Winter ist es besonders kalt.
Frohe Weihnachten!
Ich spüre die Winterkälte ganz bewusst an dem Morgen, an dem ich mich auf den Weg zur Bahnhofsmission mache. Dort, wo Obdachlose zu essen bekommen, wo sie sich duschen können oder ihnen die Haare geschnitten werden. Wo Schlafsäcke und Unterwäsche bereit liegen, um sich vor der schlimmsten Winterkälte zu schützen. Als ich aus der U-Bahnlinie U2 steige, sehe ich, wie sich ein Mann mit dicker Wollmütze, offener Bierflasche und einigen Plastiktüten auf eine der Bahnsteig-Bänke setzt. Sofort springt eine junge Frau auf und verlässt ihren Platz.
Wenig später sitze ich Dieter Puhl gegenüber, dem Leiter der Bahnhofsmission. Das Gespräch rüttelt mich auf. Der Winter breche herein und es stünden zur Zeit nur 534 Notunterkünfte bereit, sagt er und berichtet vom ersten Kältetoten auf dem Kudamm. Was ist das für eine Stadt, in der Menschen an Kälte sterben, direkt neben Luxus-Boutiquen? Dann lerne ich Draga Benjamin kennen. Trotz Kälte trägt er Badeschlappen und Wollstrümpfe. Der Mann hat offene Beine und lebt seit 2015 auf der Straße. Seine Habseligkeiten sind in einem bunten Einkaufs-Trolley verstaut.
Ich schaue ihm in die Augen und spüre: Ihm geht es nicht nur um einen Platz zum Schlafen, sondern um einen Platz im Leben. Nicht nur Kälte kann töten, sondern auch unsere Ignoranz. Draga Benjamin und die anderen Obdachlosen sind es wert, dass sich jeder von uns einen Tritt in den Hintern gibt. Und wenn wieder einer von ihnen vor dem Supermarkt sitzt, gehe ich hin und rede mit ihm. Und wünsche ihm zumindest frohe Weihnachten!