Kolumne: Problembezirke in Berlin
18. Dezember 2016"Rechtsfreie Räume in Berlin?" - erst vor kurzem machte die Berliner Zeitung mit dieser Schlagzeile auf. Und selbst in der New York Times wurde schon darüber geschrieben.
Ich kenne solche Berichte aus Chicago. In manchen Stadtteilen sind dort blutige Gewaltexzesse an der Tagesordnung. Doch wie sicher kann ich mich in Berlin fühlen? Und gibt es hier wirklich No-go-Areas?
An einem regnerischen Nachmittag radle ich zum "Soldiner Kiez" in Wedding. Der Stadtbezirk war zuletzt immer wieder im Gerede. Das Zustellunternehmen "DHL Express" will dort nach tätlichen Übergriffen auf die Fahrer nur noch bedingt Pakete ausliefern. Im gleichen Kiez war es auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Anwohnern gekommen.
Bei der Überprüfung eines elfjährigen Jungen etwa, der als "Mehrfachtäter" bekannt war, hatte sich plötzlich eine Menschenmenge gebildet. Sie behinderten die Beamten und riefen: "Haut ab, das ist unsere Straße!" Ich habe ein Handy-Video gesehen, das von einem Sympathisanten des Jungen gedreht wurde. Da ist viel Aggression zu spüren. Und wenig Respekt vor den Polizisten.
Problembezirk Soldiner Kiez
"Es gab im Soldiner Kiez drei oder vier solcher Fälle, in denen die Polizei mit Widerstandshandlungen konfrontiert war", sagt mir der zuständige Polizeidirektor Uwe Heller, den ich in seinem Büro nahe des Kiezes besuche (siehe Artikelbild).
Dennoch will Heller den Kiez nicht als eine "No-go-Area" bezeichnen. Wohl aber als einen sozialen Brennpunkt, der einer "besonderen polizeilichen Aufmerksamkeit" bedürfe. Hellers Beamte fahren ganz normal Streife. Aber es ist sichergestellt, dass Verstärkung in Windeseile vor Ort sein kann.
Das alles klingt mir zu beschwichtigend. Und ich höre eine stillschweigende Solidarisierung mit dem Kiez heraus. Sie trübt den Blick für eine Realität, die ich noch in aller Härte kennenlernen sollte.
Aggressive Stimmung
Als ich bei hereinbrechender Dunkelheit durch die Soldiner Strasse mit ihren grauen, verwahrlosten Häuserfassaden radele, ertappe ich mich, wie ich mich weit häufiger umschaue als sonst. In einer Bäckerei spreche ich einen jüngeren Mann an. Er hat seine Tochter an der Hand. Im Kiez herrsche eine "prekäre, aggressive Stimmung", sagt er mir. Das liege an der schlechten Lebenssituation vieler Anwohner. Der Mann hat recht. Hier gibt es laut Statistik mehr Arbeitslose und Sozialempfänger als in anderen Berliner Stadtteilen.
Und dann die Razzien. Mindestens einmal im Monat gäbe es eine Polizei-Razzia in seinem Mietshaus, erzählt der junge Vater. Er fühlt sich aber trotzdem nicht unsicher und schon gar nicht in einer No-go-Area.
Jeder wisse, dass es in der Straße Drogendealer gebe, räumt er ein. Solange er aber ihre Kreise nicht störe, werde ihm nichts passieren: "Im Zweifel kenne ich Menschen hier, die mich schützen würden." Seinen Namen erfahre ich nicht. Und sein Konzept von "Sicherheit" ist bestimmt nicht meines. Ich wohne am Prenzlauer Berg. Ich kenne weder Drogendealer noch denke ich über Menschen nach, die mich schützen müssten.
Auch Yousef Ayoub lebt im Soldiner Kiez. Er kenne noch die Zeiten, als hier tatsächlich eine No-go-Area war und die Polizei "in Mannschaftswagen und voller Montur" einrücken musste, erzählt der 32-jährige Erzieher. "Es ist schade, dass durch die jüngsten Schlagzeilen das alte Bild wieder da ist", sagt er. Manches sei aufgebauscht durch die Medien. Für ihn sei das heute ein völlig normaler Kiez. Der Mann ist sympathisch, denke ich. Aber er sieht alles durch eine rosarote Brille.
Plätzchen backen mit der Polizei
Mit seinem Verein, den er "Kiezbezogener Netzwerkaufbau" nennt, steuert Ayoub gegen. Fast 20 Institutionen - vom Jugendclub bis zum Fußballverein - sind dabei. Ziel ist es, mit "Beziehungsarbeit" Vertrauen aufzubauen. Regelmäßig kicken die Beamten mit den Jugendlichen. Und backen gemeinsam Plätzchen in der örtlichen Polizeidirektion. Gerade erst hat Ayoubs Initiative den "Preis für Demokratie und Toleranz 2016" bekommen. Ich freue mich für den idealistischen Mann. Gewiss, sein Engagement trägt Früchte.
Aber eines der drängenden Probleme kann auch er nicht lösen: die dramatische Kriminalität. Daran erinnert mich Ilmer Akil, der Besitzer des "Speed"-Schlüsseldienstes auf der Soldiner Straße. "Wir haben in unserer Ecke hier am Tag bis zu 70 Einbrüche. Das ist sehr viel", sagt er. Außerdem kämen in seinem Geschäft immer wieder Jugendliche vorbei, die Diebesgut verkaufen wollten.
Wie sagte mir doch der Polizeidirektor Heller: Der Soldiner Kiez ist ein sozialer Brennpunkt mit stark steigender Kriminalität. Er hätte noch hinzufügen können: ein vernachlässigter Brennpunkt. Die Signale sind alarmierend. Die Berliner Politik darf nicht weiter wegschauen. Sie muss sich mehr um die Menschen hier kümmern: Jobs und Sicherheit sind die Stichworte. Untätigkeit ist ein absolutes No-go!