Kirgisistan: Freiwillig in die Autokratie?
10. Januar 2021Auf den Wahlplakaten rund um die kirgisische Hauptstadt Bischkek ist ein Name allgegenwärtig: Sadyr Schaparow. Der Politiker blickt von übergroßen Stellwänden auf die Passanten herab und seine Wahlwerbespots flackern regelmäßig über die TV-Bildschirme. Eines dieser Videos zeigt Schaparows Hände, die eine Uhr fein säuberlich zerlegen, um sie danach wieder zusammenzusetzen, sodass sie eine neue Zeit anzeigen kann. In einem anderen Video sind wieder Hände zusehen, diesmal beim Schachspiel, bis eine Hand die Figuren mit einem kräftigen Wisch vom Brett fegt.
In seiner Kampagne verspricht Schaparow den Kirgisen einen Neuanfang und ein Ende der von Korruption geprägten Schlammschlachten verschiedener Clans, die die politische Landschaft dieses zentralasiatischen Landes schon lange geprägt haben. In den jüngsten Umfragen führt er haushoch vor seinen 16 Mitbewerbern, und das, obwohl er sich standhaft geweigert hatte, an zwei Fernsehdebatten aller Präsidentschaftskandidaten teilzunehmen. Verächtlich hatte er diese als "Tratschrunden" abgetan.
Sadyr Schaparow verbüßte gerade eine Haftstrafe wegen Freiheitsberaubung, als Demonstranten ihn im Oktober 2020 befreiten. Zu der Zeit gab es Unruhen im Land, die sich gegen die im selben Monat durchgeführten Parlamentswahlen richteten. Unter dem Druck der Straße musste die damalige Regierung zurücktreten, der frühere Abgeordnete Schaparow wurde zum Übergangspräsidenten ernannt. Er trat jedoch bereits im November zurück, um für die reguläre Präsidentschaftswahl am 10. Januar 2021 kandidieren zu können.
Am Osh-Markt, dem größten Markt der Hauptstadt Bischkek, glauben viele Menschen, dass Schaparow als Präsident dem Land endlich die ersehnte Stabilität verleihen könnte. Drei Revolutionen hat Kirgisistan in den vergangenen 15 Jahren durchlebt, und doch gilt das Land als demokratisches Vorbild unter den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
"Wir brauchen einen starken Präsidenten. Einen Khan!", sagt ein älterer Kirgise, die Faust in die Luft erhoben. "Wenn ein Khan regiert, lebt Kirgisistan!", erinnert der Mann an die autokratischen Herrscher, die die zentralasiatischen Staaten lange Zeit führten.
Ein Mann des Volkes
An diesem Sonntag stimmen die Wähler in einem Referendum auch über Verfassungsänderungen ab, die auf eine Initiative Schaparows zurückgehen. Die Änderungen würden die kirgisische Staatsform deutlich verändern. Statt der derzeitigen Mischform aus präsidialem und parlamentarischem System würden die Änderungen dem Präsidenten viel mehr Macht einräumen. Verlierer dieser Verfassungsreform wäre das Parlament, mit dem viele Kirgisen allerdings schon seit längerem unzufrieden waren.
Gegenüber der DW wollte Schaparow sich hierzu nicht äußern, doch in der Vergangenheit hatte er mehrfach das derzeitige Regierungssystem für die jahrelange politische Krise des Landes verantwortlich gemacht.
Die Menschen auf dem Osh-Markt von Bischkek sehen die geplanten Änderungen als Teil von Schaparows Kampagne zur Korruptionsbekämpfung. "Wenn es einen gibt, der sagt, wo es langgeht, dann ist das gut. Zu viele Köche verderben den Brei", kommentiert ein Bürger an einem Brotstand.
"Schaparow wird von vielen als Mann aus dem Volk gesehen und nicht als Vertreter der oligarchischen Klasse", erklärt der Politikbeobachter Mars Sarjew. Schaparow, der aus einem kleinen Dorf im Norden des Landes stammt, ist besonders auf dem Land extrem populär. Vor allem während seiner Gefängnisstrafe, die seine Anhänger für politisch motiviert halten, war es ihm gelungen, eine breite Basis von Unterstützern über die sozialen Netzwerke hinter sich zu versammeln.
"Schaparow ist ihr Mann", sagt die in Bischkek lebende Politikwissenschaftlerin Elmira Nogoibajewa über die Wähler außerhalb der kirgisischen Hauptstadt. "Er kommt aus der Provinz, er war im Gefängnis und er war von der früheren Regierung verfolgt worden. Deshalb unterstützten ihn viele. Auf der anderen Seite will er nun eine ganze Reihe von Veränderungen durchsetzen, die zu einer unrechtmäßigen Machtübernahme führen könnten", befürchtet Nogoibajewa mit Blick auf das Referendum.
Marsch für die Freiheit
Diese Befürchtungen teilt auch die Künstlerin und Frauenrechtsaktivistin Altyn Kapalova. Sie gehört der Oppositionsgruppe "Bashtan Basha" an, zu deutsch etwa "Neuanfang". Die Gruppe kritisiert die geplanten Verfassungsänderungen scharf und protestiert dagegen in den sozialen Netzwerken und bei Demonstrationen.
Kapalova hat den Eindruck, "dass Schaparow sich die Verfassung so zurechtschneidet, dass er ein Leben lang wie ein 'Khan' regieren kann. Er braucht nur noch einen Thron. Das sind keine Politiker", sagt sie über Schaparow und seine Parteigänger, "das sind Kriminelle, die nur an die Macht kommen wollen, um sich zu bereichern und um immer mehr Macht anzuhäufen."
Sie und ihre kleine Gruppe von Demonstranten sträuben sich mit aller Macht gegen diese Entwicklungen. Jeden Sonntag laufen sie durch die bittere Kälte und rufen "Eine Regierung ohne Khan!" und "Nein zum Referendum!"
Altyn Kapalova fürchtet auch, dass einige der Verfassungsänderungen dazu dienen könnten, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken. Eine Änderung sieht vor, dass Publikationen, die "nicht mit den moralischen und traditionellen Werten des kirgisischen Volkes" übereinstimmen, verboten werden können. "Alles wird scharf kontrolliert werden, und die Regierung wird die nötigen Instrumente dazu haben, um jeden, der etwas sagt, das ihr nicht passt, hinter Gitter zu bringen."
Stabilität - oder doch nicht?
Aber auch Schaparows schärfste Kritiker glauben an seinen Wahlsieg und daran, dass er auch die angestrebten Verfassungsänderungen durchsetzen wird. "Schaparow wird gewinnen, das steht fest. Seine Gegner werden keine Chance haben", sagt der Politikwissenschaftler Mars Sarjew voraus.
Aber er und viele seiner Kollegen rechnen auch damit, dass es schon bald zu weiteren Protesten kommen wird. "Die Frage ist, wie die Situation nach den Wahlen aussehen wird", sagt Sarjew. "Im Sommer oder Herbst könnte es die Wirtschaftskrise das Land destabilisieren." Kirgisistan ist von der Corona-Pandemie schwer gebeutelt und hatte in diesem Zusammenhang als erstes Land weltweit finanzielle Nothilfen des Internationalen Währungsfonds erhalten. Zudem musste der Staat bereits mehrfach die Rückzahlung von Schulden verschieben.
Die Politikwissenschaftlerin Elmira Nogoibajewa prognostiziert, dass es schon im Frühjahr eine weitere Revolution geben könnte. "Man könnte meinen, dass die Proteste im Oktober für die Katz waren - wäre das hier nicht Kirgisistan", sagt die Analystin mit Blick auf die von immer wieder aufflammenden Protesten geprägte jüngere Geschichte des Landes. "In Kirgisistan sagen die Leute immer, alles sei bereits entschieden. Aber jedes Mal, wenn sie das sagen, vergeht gerade mal eine Woche, und dann verändert sich alles erneut."
Adaption aus dem Englischen: Thomas Latschan