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Die Opfer warten auf Anerkennung

Kay-Alexander Scholz, Berlin3. Mai 2016

Das Leid hat kein Ende. Doch nun soll das Schweigen gebrochen werden: Eine unabhängige Kommission wird in den kommenden drei Jahren die zahlreichen Fälle von Kindesmissbrauch in Deutschland untersuchen.

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Symbolbild Kindesmissbrauch
Bild: picture-alliance/dpa

Bei der Auftaktkonferenz der "Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ in Berlin erläuterten die Kommissionsmitglieder, auf welchem Wege sie sich mit der schwierigen Materie beschäftigen wollen, und wo die Grenzen der Arbeit liegen.

"Wir sind darauf angewiesen, dass Betroffene zu uns kommen", sagt Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission. Ziel sei es nicht, eine repräsentative Statistik zu erstellen, sondern in die Tiefe zu gehen, Dimensionen und Strukturen zu erkennen. Zwar könne den Betroffenen keine direkte psychologische Hilfe angeboten, aber Kontakt zu Beratungsstellen vermittelt werden.

Die Kommission hat eine herausragende Stellung: Sie ist die erste ihrer Art, die sich neben Missbrauchsfällen in Institutionen wie Schulen und Kirchen explizit auch dem innerfamiliären Feld zuwendet. International gebe es dafür kein Vorbild, betonte die Vorsitzende Andresen. Dieses Novum sei "bemerkenswert" und ein "deutliches Zeichen der Bundesregierung", lobte Tamara Luding, Chefin eines Vereins zur Aufklärung und Prävention und selbst "Opfer von Geschwister-Inzest".

Eine Ermittlungsbehörde sei die siebenköpfige Kommission nicht, sagte Johannes-Wilhelm Rörig, "Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs" der Bundesregierung, der als "Ständiger Gast" mitarbeiten wird. Der Datenschutz sei sichergestellt: "Betroffene bleiben im Besitz ihrer Geschichte." So gewünscht, könnten Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden.

Kein Rückgang bei Missbrauchsfällen

Eine eigene gesetzliche Grundlage habe die Kommission nicht, sagte Rörig. Die Folgen sind: Die Arbeit ist ehrenamtlich, ein Recht auf Akteneinsicht gibt es nicht, Institutionen haben keine Pflicht zu kooperieren. Zufrieden ist Rörig mit diesem Zustand nicht. Er kündigte an, für die 2017 beginnende nächste Legislaturperiode des Bundestags einen erneuten Anlauf unternehmen zu wollen, den Status der Kommission zu verbessern. Trotzdem sei "heute ein besonderer Tag, vergleichbar mit der Einrichtung des Rundes Tisches" 2010.

Johannes-Wilhelm Rörig: Missbrauchsbeauftragte des Bundestags (Foto: dpa)
Johannes-Wilhelm Rörig: Missbrauchsbeauftragte des BundestagsBild: picture-alliance/dpa/S. Stache

Nach Angaben des Beauftragten liegen die Zahlen der Strafanzeigen wegen Kindesmissbrauch seit Jahren konstant bei rund 12.000 Fällen. Die Dunkelziffer sei noch viel höher - bei 100.000 Fällen. Nach eigenen Berechnungen auf Basis von Zahlen der Weltgesundheitsorganisation geht Rörig von rund einer Million Betroffener in Deutschland aus.

"Missbrauch sei kein privates Schicksal, sondern ein gesellschaftlicher Skandal", sagte Mathias Katsch, ebenfalls Betroffener, Aktivist und seit der Einrichtung des Runden Tisches vor sechs Jahren bei der politischen Aufarbeitung der Fälle mit dabei. "Dieses Mal wollen wir es wirklich wissen und auch in die dunkelsten Ecken schauen." Viele Opfer warteten noch immer auf Anerkennung, weil sie teilweise seit Jahrzehnten ignoriert würden. Passivität, Wahrnehmungsverweigerung, Tabuisierung und Sprachlosigkeit müssten überwunden werden.

Kirchen haben Zusammenarbeit zugesagt

Zusammenarbeiten werde die Kommission mit entsprechenden wissenschaftlichen Forschungsprojekten und mit den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland, kündigte Rörig an. Sowohl die EKD als auch die Bischofskonferenz hätten "klar" ihre Unterstützung zugesagt. Die Kirchen haben eigene Projekte und Kommissionen eingerichtet, um Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. Eine Zusammenarbeit sei möglich, beziehungsweise werde gesucht, berichtete Rörig.

Einen ersten Zwischenbericht will die Kommission 2017 vorstellen. Die Arbeit wird mit 1,4 Millionen Euro pro Jahr vom Familien- und Justizministeriums unterstützt. Nach jetzigem Stand soll deren Arbeit zwei Jahre später enden.

"Das ist heute ein richtig wichtiger Schritt", sagte Christine Bergmann. Die 76-jährige CDU-Politikerin und ehemalige Familienministerin hatte 2010 mit der politischen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals begonnen. Damals, so Bergmann, habe sie gedacht: "Das kann es doch nicht gewesen sein!" Im Bundestag habe man lange für diese Kommission kämpfen müssen.

Brachte den Stein ins Rollen in der Politik: Christine Bergmann (Archivfoto dpa)
Brachte den Stein ins Rollen in der Politik: Christine Bergmann (Archivfoto)Bild: picture alliance/dpa