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Kinder an die Macht

20. September 2011

"Kinder haben was zu sagen" - so heißt das Motto des diesjährigen Weltkindertages. Aber wo haben Kinder Mitspracherecht? Die meisten Entscheidungen treffen Erwachsene. Anders ist es im Jugendparlament.

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Junge auf einer Schaukel(Foto: Miredi/Fotolia)
Bild: fotolia

Konzentriert schaut Florian Rattay in die Runde. Vor ihm sitzt das wohl lässigste Parlament der Welt: Die Abgeordneten tragen Turnschuhe, Jeans und T-Shirt statt Anzug oder Kostüm. "Liebe Parlamentarier, habt ihr Änderungsvorschläge zur Tagesordnung?" Dieses Parlament ist der Jugendstadtrat von Bergneustadt bei Köln, der 17-jährige Florian ist einer der Sprecher. Die Jugendlichen hier wollen mitreden, wie die Zukunft ihrer Stadt aussieht und die Entscheidung darüber nicht nur den Erwachsenen überlassen.

Eines der mehr als 100 Kinder- und Jugendparlamente in Deutschland (Foto: DW)
Demokratie lernen: In über 100 Gemeinden beteiligen sich Kinder- und Jugendliche in Deutschland an der kommunalen PolitikBild: DW/Deselaers

"Dann kommen wir jetzt zu Tagesordnungspunkt....", routiniert führt Florian durch die Sitzung - heute geht es unter anderem um die Pläne für eine Rockkonzert-Nacht, die Ergebnisse einer Bürgerbefragung und einen neuen Wettbewerb an den Schulen der Stadt. Die Jugendlichen sind ernsthaft bei der Sache, stimmen ab, diskutieren, machen Vorschläge. Sie haben etwas zu sagen.

Und die Erwachsenen? Die dürfen hier nur am Rand sitzen und zuhören. Im Jugendstadtrat sind die Kinder an der Macht. Nicht nur am Weltkindertag, der am Dienstag (20.09.2011) weltweit gilt. "Ich war schon letztes Jahr im Kinder- und Jugendparlament. Es macht mir Spaß, hier für die Jugend etwas zu entwickeln", sagt die 15-jährige Aleksandra. Und Melike, 13 Jahre, fügt hinzu: "Mir gefällt es, die Stadt zu verändern. Und die Erwachsenen nehmen ernst, was wir hier tun."

Denn mit "Politik spielen" hat das nichts zu tun, erzählt der 14-jährige Alexander: "Man kann durchaus mitentscheiden, was in der Stadt geschieht. Zum Beispiel hat der Jugendstadtrat sich für einen Skaterpark eingesetzt - und der wurde dann auch gebaut."

Mehr Mitsprache, mehr Selbstbewusstsein

Dass Kinder in der Gesellschaft in dieser Form mitentscheiden dürfen, hat sich in Deutschland erst im vergangenen Jahrzehnt verbreitet. "Früher hat man gesagt: Kinder soll man sehen, aber nicht hören", so Rudi Tarneden vom Kinderhilfswerk UNICEF. "Heute sagen wir: Wir wollen wissen, was die Kinder denken."

Der Sprecher von UNICEF Deutschland, Rudi Tarneden (Foto: dpa)
Rudi Tarneden, UNICEF DeutschlandBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Kinder- und Jugendparlamente sind vor mehr als 30 Jahren in Frankreich entstanden. Seit Anfang der 1990er Jahre gibt es sie auch in Deutschland, inzwischen fast in jeder größeren Stadt. Die Abgeordneten sind meistens zwischen zehn und 18 Jahre alt.

Aber auch außerhalb der Parlamente werden Kinder in Deutschland immer öfter nach ihrer Meinung gefragt: Kommunalpolitiker wollen wissen, wie ein neuer Spielplatz aussehen soll. Lehrer fragen, welche Musik die Schüler beim Schulfest hören wollen und Eltern lassen die Kinder mitentscheiden, wohin der Wochenendausflug geht.

"Das heißt, das ist nicht mehr der Befehl von oben nach unten, sondern der Wunsch, sich gegenseitig zu überzeugen", sagt Rudi Tarneden. Das sei nicht immer stressfrei und auch für Eltern eine Herausforderung. "Aber es ist ein Weg, der zu mehr Selbstsicherheit und Selbstvertrauen führt."

Unmündige Stützen der Gesellschaft

Kinder arbeiten auf einer Baustelle in Birma (Foto: dpa)
Kinderarbeit in BirmaBild: picture-alliance/dpa

In den meisten Ländern der Welt sind Kinder unmündig, müssen tun, was die Erwachsenen von ihnen verlangen - und nicht immer dürfen sie einfach nur Kinder sein. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO müssen weltweit mehr als 215 Millionen Kinder arbeiten, um ihre Familie mit zu ernähren.

In einigen Ländern, etwa in Afrika, müssen sie als Kindersoldaten die Kriege der Erwachsenen führen. Kinder sind zwar wichtige Stützen der Gesellschaft, haben aber dennoch nichts zu sagen.

Kindersoldaten im Kongo (Foto: dpa)
KindersoldatenBild: AP

Das sei ein Verlust für die Gesellschaft, meint Rudi Tarneden von UNICEF, und bringt ein Beispiel: "Ich habe vor einigen Jahren in Ruanda erlebt, wie Kinder und Jugendliche auf einer nationalen Konferenz über Rassismus in ihrem Land diskutiert haben. In der normalen Gesellschaft wurde tabuisiert, dass es weiterhin Spannungen zwischen Hutus und Tutsis gibt." Und Tarneden fügt hinzu: "Aber die Kinder haben diese Ängste und Aggressionen, die in der Gesellschaft waren, ausgedrückt und gemeinsam nach Lösungen gesucht."

Die Gesellschaft verändern

Ein Kinderparlament gibt es auch in Rajasthan - einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens. Hier müssen viele Kinder im Haushalt oder bei der Feldarbeit helfen. Bildung kommt oft zu kurz; vor allem die Mädchen werden von ihren Eltern häufig nicht in die Schule geschickt. Eine scheinbar verzwickte Position - doch auch hier haben die Kinder inzwischen etwas zu sagen.

Hasina Akter, die mit 17 Jahren Opfer eines Säureanschlags wurde, bei einer Pressekonferenz der UNICEF in Berlin (Foto: dpa)
Trotz der UN-Kinderrechtskonvention sind noch immer mehrere Millionen Mädchen und Jungen in der ganzen Welt schutzlos gegen Ausbeutung und GewaltBild: picture-alliance/ dpa

Eine Hilfsorganisation hat das "Parlament der Kinder" gegründet. Santosh ist die fünfte Vorsitzende des Kinderparlaments von Rajasthan. Tagsüber hilft sie ihren Eltern, nachts lernt sie in einer Abendschule. "Als ich noch nicht Ministerpräsidentin war, habe ich nur an mein Zuhause gedacht, was dort zu tun ist und was nicht", erzählt Santosh. "Seit ich Ministerpräsidentin bin, denke ich an mein Dorf und was da getan werden muss." Eine ordentliche Wasserversorgung müsse her. Und, für sie besonders wichtig: "Frauen, die arbeiten gehen, sollten unterstützt werden."

Bisher waren alle Vorsitzenden des Kinderparlaments in Rajasthan Mädchen. Ungewöhnlich in einem Land wie Indien, wo Männer noch immer höhere Wertschätzung genießen. Doch die Jungen bekamen bei den Wahlen nie genug Stimmen.

Für den Politikwissenschaftler Roland Roth sind Kinderparlamente deshalb auch eine Chance, eine Gesellschaft langfristig zu verändern: "Wenn Kinder und Jugendliche früh die Erfahrung machen: Ich kann etwas bewegen, ich kann etwas gestalten, es kommt auf mich an - dann werden sie gute Bürgerinnen und Bürger."

Autorin: Monika Griebeler
Redaktion: Monika Dittrich, Hartmut Lüning