Kein neuer Libanon
31. Oktober 2016Immer noch türmt sich der Müll in den Straßen Beiruts und immer noch fällt der Strom mehrere Stunden am Tag im gesamten Land aus: Eigentlich ist im Libanon also alles so wie immer. Doch eines hat sich mit dem heutigen Tag geändert - das Land hat seit Mai 2014 erstmals wieder einen Staatspräsidenten: Michel Aoun, 83 Jahre alt, ehemaliger Oberbefehlshaber der libanesischen Armee und enger Verbündeter der schiitischen Hisbollah, ein Freund des syrischen Regimes. Und: Aoun ist christlicher Maronit. Denn das politische System des konfessionellen Proporzes schreibt einen Christen an der Spitze des Landes vor, einen Sunniten als Ministerpräsidenten und einen Schiiten als Parlamentspräsidenten.
"Es herrscht ein gewisser Stolz darauf, ohne Präsident in einer extrem heiklen regionalen Situation handlungsfähig geblieben zu sein", sagt Bente Scheller, Leiterin des Nahost-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Man habe den Verhandlungsprozess nicht an den Nagel gehängt. Und das, obwohl er lange gedauert hat.
Machtvakuum im Libanon vorerst beendet
Die Abgeordneten hatten in den vergangenen zweieinhalb Jahren in 45 Wahlgängen versucht, einen Nachfolger für Michel Sleiman zu finden. Doch die Abstimmungen waren jedes Mal gescheitert, weil die beiden rivalisierenden Lager die Wahl blockierten: Da ist auf der einen Seite die schiitische Hisbollah und ihre Verbündeten vom "Bündnis 8. März", unterstützt vom Iran. Und auf der anderen Seite steht das pro-westliche und mehrheitlich sunnitische "Bündnis 14. März", das Hilfe von Saudi-Arabien erhält. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt wurde Michel Aoun nun zum Staatspräsidenten gewählt. Für Aoun, der aufgrund seiner umstrittenen Rolle im libanesischen Bürgerkrieg fast 15 Jahre im französischen Exil lebte, geht damit ein lang ersehnter Traum in Erfüllung.
Möglich gemacht hat das ein Deal, zwischen Aoun und Saad Hariri, der innerhalb des "Bündnisses 14. März" die stärkste sunnitische Parlamentspartei "Future Movement" anführt. Allerdings, betont Nahost-Expertin Scheller, habe es sich hier um keinen rein innerlibanesischen Prozess gehandelt, sondern dieser Deal hing auch vom Gutdünken wichtiger regionaler Akteure wie Saudi-Arabien und Iran ab. Und die haben offenbar zugestimmt.
Bereits Tage vor der Wahl war bekannt geworden, dass Hariri, der zwischen 2009 und 2011 Ministerpräsident des Landes war, von seinen Prinzipien abrücken und dafür sorgen würde, dass bei einem nächsten Wahlgang Aoun als Sieger der Wahl hervorgeht. Im Gegenzug wird Aoun Hariri bald zum Premier ernennen, der wiederum eine neue Regierung bilden wird. Die Arbeit der jetzigen Regierung war in den vergangenen zwei Jahren immer wieder aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zum Erliegen gekommen.
Durch den Deal zwischen Aoun und Hariri kommen sich die beiden verfeindeten Bündnisse (vorerst) näher. Doch Hariris Schachzug, sich öffentlich und laut zu Aoun zu bekennen, birgt auch persönliche und politische Risiken. Aoun ist innerhalb der sunnitischen Anhängerschaft Hariris äußerst unbeliebt und seine Wahl zum Staatspräsidenten könnte als Sieg der Hisbollah und deren Rolle in Syrien gewertet werden. Parteikollegen Hariris befürchten, der iranisch-schiitische Einfluss könnte zunehmen, was zu einer Veränderung des fragilen Gleichgewichts im Lande führen würde. Aoun sei Teil eines iranischen Projektes im Libanon, sagte jüngst Justizminister Aschraf Rifi. Schon jetzt zeichnen sich innerparteiliche Differenzen ab.
Hariri bekommt Zugang zu Geld
Doch für Hariri war dieser Deal wichtig: Seine Baufirma Saudi-Oger ist in finanziellen Schwierigkeiten, er kann seine Angestellten kaum noch bezahlen und eine erneute Ernennung zum Ministerpräsidenten würde ihm - besonders bei seinem Hauptgeldgebern Saudi-Arabien und innerhalb seiner Partei - ein besseres politisches Ansehen verschaffen. Dafür geht er sogar einen Pakt mit seinem Erzfeind, Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, ein, der dem Deal - zumindest öffentlich - bereits im Vorfeld zugestimmt hatte. Zumal Aoun der offizielle Kandidat des Hisbollah-dominierten "Bündnisses 8. März" war.
Allerdings gehen besonders in der Syrien-Frage die Meinungen von Nasrallah und Hariri auseinander: Sunnit Hariri will, dass sich die schiitische Hisbollah aus dem Krieg im Nachbarland raushält und ihre Waffen abgibt. Abgesehen davon, dass Hariri der Hisbollah vorwirft, an der Ermordung seines Vaters Rafik Hariri 2005 beteiligt gewesen zu sein und ein Sondertribunal die Vorwürfe untersucht. Es ist unklar, wie sich Präsident Aoun in dieser Situation verhalten wird, wo er doch Bande mit Hariri geschlossen hat und ein Freund der Hisbollah ist. Aber alle politischen Akteure seien darauf bedacht, den Konflikt in Syrien nicht überschwappen zu lassen, sagt Bente Scheller. Im Libanon konzentriere man sich darauf, die Sicherheitslage unter Kontrolle zu halten.
Aoun gegen syrische Flüchtlinge
Ein Thema, das auch für Aoun als ehemaligen Oberbefehlshaber der Armee eine wichtige Rolle spielt. Im Libanon vermutet man, dass er sich darauf konzentrieren wird, eine geeignete Person für den Posten des Armee-Chefs zu finden - außerdem hat er gleich nach seiner Wahl einen härteren Kurs gegen die syrischen Flüchtlinge im Land angekündigt. Eine Lösung im Syrien-Konflikt müsse auch bedeuten, dass die syrischen Flüchtlinge zurückkehren.
Seine Anhänger sehen ihn als Fürsprecher der Christen im Libanon, der das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik und ihre Institutionen wieder stärken kann. Andere wiederum sind skeptisch, denn Aoun ist seit jeher Teil der politischen Szene und Profiteur eines korrupten Systems. Außerdem ist er jenseits der 80 - sein Alter und sein Temperament lassen vermuten, dass es ihm an der nötigen Dynamik fehlen wird, die das Land jetzt braucht.
Die alten Probleme bleiben
Besonders die junge Bevölkerung zeigt sich desillusioniert von der Wahl Aouns. "Es sind doch eh immer die Gleichen", sagt die 24-Jährige Haifa al-Banna. Die Social-Media Managerin glaubt nicht daran, dass Aoun die Probleme im Land angehen kann. Zumal der Präsident für deren Lösung nicht entscheidend sei, sagt Bente Scheller.
Die Regierung liegt derzeit laut Weltwirtschaftsforum weltweit auf Platz 137 von 140, was ihre Effizienz und den Umgang mit öffentlichen Finanzen angeht. Offiziell leben mehr als eine Million syrische Flüchtlinge in dem krisengebeutelten Land, Schätzungen zufolge sollen es weit mehr sein. Die Infrastruktur war bereits vor dem Syrien-Krieg an ihre Grenzen gelangt, auch wegen der Korruption und Vetternwirtschaft; jetzt droht sie allerdings zu kollabieren. Täglich werden die Stromausfälle länger und auch Wasser ist Mangelware.
Wenn Hariri also von Präsident Aoun zum Ministerpräsidenten ernannt wird, dann wird die Zukunft des Landes davon abhängen, wie sich das neue Kabinett zusammensetzt und ob wirklich Lösungen gefunden und auch umgesetzt werden. "Insofern ist die Wahl eines Präsidenten nur der erste Schritt auf einem langen Weg mit ungewissem Ausgang", sagt Nahost-Expertin Scheller.