Kardinal Marx sieht die Kirche am Scheideweg
24. September 2018"Viele Menschen glauben uns nicht mehr." Die Stimme von Kardinal Marx, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, scheint angeschlagen. Aber in diesem Moment wirkt er auch bewegt und aufgewühlt angesichts der Dimension von Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. An diesem Dienstag stellen Wissenschaftler und Bischöfe während der Herbstvollversammlung der Bischofskonferenz eine Missbrauchsstudie vor. Deren Ergebnisse werden die Kirche in Deutschland auf lange Zeit beschäftigen.So viel steht jetzt schon fest.
"Hier ist wirklich ein entscheidender, vielleicht ein wichtiger Wendepunkt für die katholische Kirche in Deutschland. Und nicht nur in Deutschland", sagt Marx. Es gehe um den Umgang mit den Opfern, aber auch um die Frage, "wie wir als Kirche mit der eigenen Zukunft umgehen". Diese Empfindung teilten viele in der Kirche. Und der Kardinal erinnert daran, dass er im engsten Beraterkreis von Papst Franziskus engagiert sei und noch in der vorigen Woche mit diesem auch über dieses Thema geredet habe.
In diesen Tagen hört man von Bischöfen Worte der Erschütterung, der Nachdenklichkeit wie selten sonst. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck spricht beispielsweise von einem "großen Versagen" der Kirche. "Dazu gehören vor allem die alarmierenden Hinweise, dass einige Vorstellungen und Aspekte unserer katholischen Sexualmoral sowie manche Macht- und Hierarchie-Strukturen sexuellen Missbrauch begünstigt haben und immer noch begünstigen." Er wählte bislang die deutlichsten Worte.
Mehr als 3677 Betroffene sexueller Übergriffe von mindestens 1670 Beschuldigten, ganz überwiegend Priestern. Diese Ergebnisse der 2014 von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen "Studie über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Geistliche" waren bereits am 11. September vorab in der "Zeit" und im "Spiegel" veröffentlicht worden. Viele Bischöfe bewerteten die Zahlen als "beschämend" und zeigten sich "erschüttert". Bis Donnerstag beraten die knapp 70 Mitglieder der Konferenz in Fulda die Studie. Und sie wissen: Die Gesamtzahl der Übergriffe wird wohl in die zigtausende gehen. Wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich kaum sagen. Denn erfasst wurden nicht einmal alle Einrichtungen der katholischen Kirche. So blieben die Orden mit ihren zahlreichen Schulen und Heimen außen vor.
"Radikale Selbstkritik"
Overbeck will die Empfehlungen der Experten für sein Bistum sehr ernst nehmen. Man müsse um der Opfer willen "wirklich neue Wege gehen". Und Passaus Bischof Stefan Oster mahnte eine "radikale Form der Selbstkritik im Blick auf die Institution" an.
Man werde sich nun auch der Diskussion über Themen wie Änderung der Sexualmoral oder Abschaffung des Zölibats stellen müssen. Offen ist, welche konkreten Schritte die deutschen Bischöfe in Fulda beschließen werden, ob sie zum Beispiel auch ein Nachdenken über die Priesterausbildung, den Zölibat oder die jetzige Praxis anregen, bei der Priester in aller Regel in einem Pfarrhaus alleine leben.
Über die Verpflichtung von Priestern zur Ehelosigkeit wird in Deutschland innerkirchlich seit langem gestritten. Angesichts des Missbrauchskandals bricht die Diskussion neu auf. Eine Debatte über den Zölibat, das lässt sich vermuten, könnte die katholische Kirche zerreißen. Aber vielleicht kommt der Anstoß zu einem neuen Nachdenken über die Verpflichtung zur Ehelosigkeit gar nicht aus akademischer Reflexion oder langer Sitzungsarbeit bürgerlicher deutscher Bischöfe, sondern vom Ende der kirchlichen Welt.
Anstoß aus dem Amazonas
In diesen Tagen äußerte sich der brasilianische Kardinal Claudio Hummes (84) in einem DW-Interview zur Seelsorge unter Indigenen am Amazonas. Brasiliens Kirche hat in dieser riesigen Region allein 38 Bistümer, und die kirchliche Arbeit stößt dort an Grenzen. "Wir brauchen eine andere Form des Klerus", sagte Hummes, der lange als Präfekt der Kleruskongregation im Vatikan arbeitete. "In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach der Verpflichtung zum Zölibat."
Matthias Katsch, Sprecher und Vorsitzender des Opferverbandes "Eckiger Tisch" sieht das kritisch. Er gehörte zu den Opfern sexueller Gewalt am Berliner Canisius-Kolleg, einer Jesuiten-Schule, und engagiert sich seit langem für die Aufarbeitung von Missbrauch. "Die Katholiken von links und von rechts diskutieren gefühlt seit einem halben Jahrhundert über diese Strukturfragen in der Kirche", sagt er der Deutschen Welle. Das sei "richtig und wichtig", sei für ihn aber nicht der zentrale Punkt. "Für mich ist wichtig, dass den Betroffenen jetzt schnell Hilfe angeboten wird und es endlich eine Entschädigung gibt, die sich auch nach Entschädigung anfühlt, die angemessen ist dem Schaden, der angerichtet wurde." Entscheidend sei, "dass jetzt die Betroffenen in den Blick kommen". Katsch selber sieht übrigens eher die Machtverteilung in der Kirche, nicht den Zölibat als entscheidenden Punkt für Missbrauch.
Von Fulda nach Rom
Das könnte ein Signal nach Rom sein. Denn seit einigen Tagen ist klar, dass Papst Franziskus das Thema Missbrauch im Februar mit den Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen weltweit erörtern will. Australien, Chile, Frankreich, die Philippinen, die Niederlande, Deutschland… aus immer mehr Ländern werden reihenweise Fälle sexueller Gewalt durch Kirchenmänner bekannt.
Für den Februar-Termin hat Opfer-Sprecher Katsch eine ganz konkrete Erwartung: Der Papst, sagt er, solle nicht nur die Bischofskonferenz-Vorsitzenden, sondern auch Betroffene einladen: "Es gibt quasi kein Land, in dem die katholische Kirche aktiv ist, in dem es nicht sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Kleriker gegeben hat. Deshalb wäre es das richtige Signal: Dass die Kirche endlich bereit ist, zuzuhören und nicht immer schon die Antworten zu haben."