Katholische Kirche: Im Sog des Missbrauchs
15. September 2018"Wir brauchen eine ehrliche und umfassende Aufarbeitung in der Kirche. Menschen, die so etwas tun, haben in keinem Amt der Kirche etwas zu suchen, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD). Weiter sagte sie, die Kirche müsse eine Vereinbarung schließen, dass "alle Ebenen daran arbeiten", dass diese Menschen nicht weiter ihr "Unwesen" treiben könnten.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer fordert indes mehr Konsequenz im Handeln und eine weitere Aufarbeitung. "Die Kirche muss noch konsequenter klarmachen: Wer Täter ist, darf nicht als Priester arbeiten", sagte der ehemalige Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen dem "Spiegel".
Zudem warb er für eine Folgestudie zur aktuellen Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz. Damit könne "mehr Licht in dieses Dunkelfeld" kommen - "und damit zum Beispiel die großen Unterschiede zwischen den Diözesen zumindest intern transparent werden und so ein Lernprozess entstehen kann. So könnten Diözesen, die besonders schlecht dastehen, endlich zum Handeln aufgefordert werden."
Kirchen torpedieren Aufarbeitungsprozess
Zunächst war das Forschungsprojekt an Pfeiffer vergeben worden: Es sollte durch Aktenstudien belastbare Zahlen zum Missbrauch erbringen, den Verlauf der Taten aus der Sicht der Opfer nachvollziehen, das Handeln der Täter analysieren und klären, wie sich die Kirche verhalten hat. 2013 kündigten die Bischöfe die Zusammenarbeit auf. Das Vertrauensverhältnis zu Pfeiffer sei zerrüttet.
Pfeiffer sagte dem "Spiegel": "Die Kirche wollte mir und meinem Team etwas zumuten, das die jetzigen Forscher so nicht zu erdulden hatten." Sie habe darauf bestanden, "die Veröffentlichung kritischer Forschungsbefunde im Zweifelsfall zu verhindern. Deshalb konnte ich die Kooperation nicht fortsetzen."
Er nannte es eine "Fehlentscheidung", dass die Forscher der aktuellen Studie keinen Zugang zu Originaldokumenten erhalten hätten. "Als ich 2012 mit dem Projekt begann, gab es die Vereinbarung, dass pensionierte Richter und Staatsanwälte in unserem Auftrag die Daten erheben sollten. Es ist ein schwerer Fehler, dass die Kirche das geändert hat."
Pfeiffer nannte die vorliegenden ersten Ergebnisse "schockierend". Er geht zudem von einer hohen Dunkelziffer aus. Heute würden mehr Fälle angezeigt: "Die gesellschaftliche Sensibilität für Betroffene von sexuellem Missbrauch ist gewachsen."
Betroffenheit und Katzenjammer
Mehrere Bischöfe haben am Freitag Betroffenheit über den Umgang mit Missbrauch in ihrer Kirche bekundet und Konsequenzen aus den jüngst bekanntgewordenen Zahlen und Fakten angekündigt. "Wir brauchen eine radikale Form der Selbstkritik im Blick auf die Institution", sagte der Passauer Bischof Stefan Oster in einer Videobotschaft. Ausdrücklich würdigte der Jugendbischof den "großen Mut" Betroffener, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Die Kirche werde sich nun auch der Diskussion um Themen wie eine Änderung der Sexualmoral oder der Abschaffung des Zölibats stellen müssen.
Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck kündigte in einem Brief an die Kirchengemeinden des Bistums an, sich allen kritischen Fragen zu stellen. Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch wandte sich mit einem Brief an die Gemeinden seiner Diözese. Die vorab bekannt gewordenen Ergebnisse der Studie böten "Anlass zu Unruhe und Ärgernis".
Scham bei Woelki
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki nannte es beschämend, dass die Kirche solche Taten zugelassen habe und "dass nachweislich vertuscht wurde, weil man den Ruf der Institution über das Wohl des Einzelnen gestellt hat". Dem wolle er entgegentreten.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) mahnte strukturelle Änderungen an. So gelte es etwa, Frauen stärker einzubinden, sagte Präsident Thomas Sternberg dem Deutschlandfunk. Die Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), Lisi Maier, machte in der "Welt" "Männerbünde" innerhalb der katholischen Kirche für Mängel bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals verantwortlich.
Thema Macht
Ähnlich äußerte sich der Jesuit Klaus Mertes, der 2010 als Leiter des Berliner Canisius-Collegs maßgeblich zum Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in Deutschland beigetragen hatte. Er riet in der "Stuttgarter Zeitung" dazu, sich intensiver mit dem Thema Macht auseinanderzusetzen.
Matthias Katsch von der Opferinitiative Eckiger Tisch sprach sich für eine unabhängige Aufarbeitungsstelle aus. "Ein erster Schritt für die Bischöfe wäre, mit einer staatlichen Stelle zusammenzuarbeiten und dafür ihre Aktenbestände zur Verfügung zu stellen", sagte Katsch der "Süddeutschen Zeitung".
Die Deutsche Bischofskonferenz hatte eine umfangreiche wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, um den 2010 öffentlich gewordenen Missbrauchsskandal anhand interner Akten über Priester seit dem Kriegsende bundesweit zu untersuchen. Nach Vorabberichten des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" und der Wochenzeitung "Die Zeit" nennt die Studie zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3.677 sexuelle Vergehen durch 1.670 Kleriker an überwiegend männlichen Minderjährigen. Unter katholischen Kirchenleuten, die Kinder missbraucht haben sollen, waren nach einem Medienbericht auch Kleriker mit Leitungsfunktion. Am 25. September soll die Studie auf der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vorgestellt werden.
Verfahrenseinstellungen
Die Studie belegt laut "Zeit" ferner, dass Strafverfahren gegen mutmaßliche Täter aus der katholischen Kirche überproportional oft eingestellt wurden. Bei Kirchenvertretern waren es 67,1 Prozent der Verfahren, bei vergleichbaren Fällen in Schulen und Sportvereinen nur 20,5 Prozent. Als Hauptgrund wird Verjährung genannt.
Auch weltweit ist der Missbrauch ein Dauerthema für die katholische Kirche. Papst Franziskus hat für Februar die Chefs aller nationalen Bischofskonferenzen zu einem Gipfeltreffen zusammengerufen.
cgn/rb (afp, dpa, epd, kna)