Jurek Becker: "Jakob der Lügner"
6. Oktober 2018Kann man über Auschwitz schreiben? Die vieldiskutierte Frage, die in der Nachkriegszeit nicht nur in Deutschland immer wieder gestellt wurde, ist vielfach beantwortet worden - auch durch Romane und Erzählungen, autobiografische Schriften und Lyrik. Primo Levis "Ist das ein Mensch?" oder Imre Kertész "Roman eines Schicksallosen", um nur zwei Bücher zu nennen, wurden zu Weltliteratur, erschütternd und wahrhaftig.
Große Literatur über das Überleben in Zeiten des Schreckens
Viele deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben nach Ende des Zweiten Weltkriegs über nationalsozialistische Verbrechen und den Holocaust geschrieben. Jurek Beckers Roman aus dem Jahre 1969 gehört zweifellos zu den eindrucksvollsten Texten, die sich mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 auseinandergesetzt haben. Das Buch ist große Literatur und gleichzeitig literarisches Zeugnis eines historischen Verbrechens.
"Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens."
…heißt es ganz zu Beginn des Romans, vorgetragen vom namenlosen Ich-Erzähler der Geschichte. Er wird sie nun also los, "seine" Geschichte. Viele Jahre später, 1967, erinnert er sich an jene Ereignisse in einem Ghetto im von den Nazis besetzten Polen, in dem die Juden eingepfercht wurden von den Deutschen, und in dem eben jener "Jakob der Lügner" für ein paar Wochen zum Hoffnungsträger all der verzweifelten Juden im Ghetto wird.
Hoffnung durch erfundene Geschichten
In einer Notsituation erzählt Jakob einem Freund, dass er ein Radio besitze und gehört habe, dass die russischen Befreier nur ein paar Kilometer entfernt stehen. Ist das Ghetto also unmittelbar vor der Befreiung? Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Menschen schöpfen Hoffnung, entwickeln neuen Lebenswillen. Für Jakob freilich wird seine Rolle als Überbringer froher Botschaften immer mehr zu Last. Darf er seine Freunde weiter belügen, darf er immer neue falsche Nachrichten verbreiten, 'nur' um die Menschen mit Hoffnung zu versorgen?
Die Antwort fällt nicht immer so eindeutig aus wie in jener Sequenz, in der Jakob seinem Freund Kowalski beichtet, dass er gar kein Radio besitzt, und dieser daraufhin Selbstmord begeht.
"…ein Lügner mit Gewissensbissen wird ein Leben lang ein Stümper bleiben. In dieser Branche sind Zurückhaltung und falsche Scham nicht angebracht, du mußt da aus dem vollen schöpfen, die Überzeugung muß dir im Gesicht geschrieben stehen, du mußt ihnen vorspielen, wie einer auszusehen hat, der das schon weiß, was sie im ersten Augenblick von dir erfahren."
Jurek Beckers Roman ist vieles: eine Geschichte voller Melancholie und Trauer, aber auch mit verzweifeltem Humor gewürzt, in der Tradition jüdischen Erzählens. Ein Roman, der die Frage stellt, was wahrhaftig und was falsch ist in Zeiten der Krise - von "Fake News" war 1969, als das Buch zunächst in der DDR erschien, noch nicht die Rede. Vor allem ist "Jakob der Lügner" aber ein Buch über die Frage nach dem Wert und der Kraft von Literatur und Poesie:
"Wir wollen jetzt ein bißchen schwätzen, wie es sich für eine ordentliche Geschichte gehört, laßt mir die kleine Freude, ohne ein Schwätzchen ist alles so elend traurig."
Jurek Becker: "Jakob der Lügner" (1969), Suhrkamp Verlag
Jurek Becker wurde vermutlich 1937 in Łódź, Polen, als Jerzy Bekker als Kind jüdischer Eltern geboren, wuchs im Ghetto und in Konzentrationslagern auf. Seine Mutter starb, sein Vater spürte ihn nach dem Krieg auf und zog mit ihm nach Ost-Berlin. Dort lernte er die deutsche Sprache. Er schrieb zunächst Drehbücher für Film und Fernsehen und hatte dann 1969 mit dem Roman "Jakob der Lügner" großen Erfolg. 1977 ging Becker in die Bundesrepublik, veröffentlichte weitere Romane und Erzählungen und feierte mit der TV-Serie "Liebling Kreuzberg" einen TV-Quotenhit. Jurek Becker starb 1997.