Jeder dritte Domspatz hat Gewalt erlebt
8. Januar 2016Bei den Regensburger Domspatzen haben Priester und Lehrer über Jahrzehnte mindestens 231 Kinder geschlagen, gequält oder sexuell missbraucht. Das gab der Rechtsanwalt Ulrich Weber bekannt, der von der katholischen Kirche und dem weltberühmten Chor mit der Aufklärung des Skandals betraut wurde. Die in seinem Zwischenbericht genannte Zahl der Misshandlungsfälle ist wesentlich größer als bisher angenommen. Weber geht davon aus, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher liegt. Er rechnet damit, dass etwa jeder Dritte der rund 2100 Schüler der "Spatzen" zwischen 1953 bis 1992 unter körperlicher Gewalt litt.
Weber sprach seit Mai 2015 mit zahlreichen Opfern, Verantwortlichen und dem Missbrauchsbeauftragten des Bistums Regensburg. Zudem hatte er Einblick in die Geheimarchive, Personalakten des Bistums sowie die persönlichen Notizen des Generalvikars. Nach seinen Recherchen wurden 50 der 231 bislang ermittelten misshandelten Kinder auch Opfer sexueller Gewalt. "Die sexuellen Übergriffe reichten von Streicheln bis zu Vergewaltigungen." Viele Kinder hätten von Prügeln, blutigen Schlägen mit Rohrstock, Schlüsselbund oder Siegelringen berichtet. "Bettnässern wurde die Flüssigkeitsaufnahme verweigert", erläuterte Weber. Zudem seien Mitschüler bei Ermittlungen zu Falschaussagen gedrängt worden.
Übergriffe ohne jede personellen Konsequenzen
Strafrechtlich sind die allermeisten Taten verjährt. Die Übergriffe waren intern bekannt, führten nach Angaben von Weber aber nicht zu personellen Konsequenzen oder strukturellen Veränderungen in der Vorschule des Chores. Auch der Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI., Georg Ratzinger, der den Chor von 1964 bis 1994 geleitet hatte, dürfte laut Weber von den Vorgängen gewusst haben: "Davon muss ich nach meinen Recherchen ausgehen."
Georg Ratzinger hatte in einem früheren Interview der "Passauer Neuen Presse" vor fast sechs Jahren eingeräumt, bis Ende der 1970er Jahre selbst hin und wieder Ohrfeigen verteilt zu haben. Zur Begründung seiner damaligen Verhaltensweise hatte er gesagt: "Früher waren Ohrfeigen einfach die Reaktionsweise auf Verfehlungen oder bewusste Leistungsverweigerung." Doch sei er froh gewesen, als zu Anfang der 1980er Jahre körperliche Züchtigungen vom Gesetzgeber ganz verboten wurden: "Daran habe ich mich striktissime gehalten, und ich war innerlich erleichtert." Ratzinger beteuerte in dem Interview zugleich, dass er von den bekannt gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs bei den Domspatzen nichts gewusst habe - auch nicht gerüchteweise.
Im vergangenen Februar hatte das Bistum Regensburg noch mitgeteilt, dass Berichte von 72 früheren Domspatzen aus den Jahren 1953 bis 1992 vorlägen. Bischof Rudolf Voderholzer hatte erklärt, die Straftaten anzuerkennen und den Opfern ein Schmerzensgeld in Höhe von jeweils 2500 Euro zu zahlen. Weber betonte, dass die jetzige Zusammenarbeit mit dem Bistum konstruktiv und zielführend sei.
Gesprächsbedarf hält an
Wie geht es nun weiter? Anfang Februar tritt ein Beratungskuratorium zusammen, das den Rechtsanwalt unterstützen soll. Ihm gehören sechs Opfervertreter, zwei Mediatoren, vier Mitglieder des Domspatzen-Stiftungsvorstands, Bischof Voderholzer sowie Generalvikar Michael Fuchs an. Wann Weber seinen Abschlussbericht vorlegt, hängt davon ab, wie viele Opfer noch mit ihm reden wollen. Allein seit Montag, als er seine Pressekonferenz ankündigte, haben drei weitere Betroffene Gesprächsbedarf bei ihm angemeldet.
Die Regensburger Domspatzen sind Deutschlands ältester Knabenchor. Sie blicken auf eine mehr als 1000-jährige Geschichte zurück. Seit 1994 leitet der Nicht-Geistliche Roland Büchner den Chor, der aus Knaben und jungen Männern besteht. Zu den Domspatzen gehören auch Schule und Internat.
sti/SC (dpa, kna)