1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteEuropa

IStGH: Europa reagiert gespalten auf beantragte Haftbefehle

22. Mai 2024

Für die Entscheidung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofes Haftbefehle gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und drei Hamas-Führer zu beantragen, hagelt es viel Kritik - aber auch Lob.

https://p.dw.com/p/4g7R9
Internationaler Strafgerichtshof (ICC) Den Haag
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag: Wird hier eines Tages die Situation in Gaza aufgearbeitet? Bild: Peter Dejong/AP/dpa/picture alliance

Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), hat Anträge auf Haftbefehle wegen der Situation im Gazastreifen beantragt. 

Gegen den Anführer der militant-islamistischen Hamas im Gazastreifen Jihia al-Sinwar sowie dessen Stellvertreter Mohammed Deif und den Auslandschef Ismail Hanija gibt es laut Anklage einen "begründeten Verdacht," mutmaßlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen zu haben. Diese sollen insbesondere mit dem Terroranschlag gegen Israel am 7. Oktober 2023 im Zusammenhang stehen. So führt Chefankläger Khan beispielsweise die Tatbestände der Ausrottung, der vorsätzlichen Tötung oder der Geiselnahmen an.

Bei dem Terrorangriff der Hamas wurden rund 1200 Menschen im israelischen Grenzgebiet getötet und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Bei der dadurch ausgelösten Gegenoffensive Israels kamen nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bislang mehr als 35.500 Menschen ums Leben. Israel beruft sich bei den Militärschlägen auf sein Recht auf Selbstverteidigung.

Anträge auf Haftbefehle auch gegen Netanjahu und Galant

Zeitgleich ersuchte Khan um Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant. Auch ihnen werden mutmaßliche Kriegsverbrechen und mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Genannt werden etwa die Tatbestände des Aushungerns als Kriegswaffe oder der vorsätzliche Angriff auf die Zivilbevölkerung.

Das Büro des Chefanklägers habe Beweise gesammelt, welche zeigten, dass "Israel der Zivilbevölkerung in allen Teilen des Gazastreifens absichtlich und systematisch Gegenstände vorenthält, die für das menschliche Überleben unerlässlich sind," teilte Khan mit.

Chefankläger Internationaler Strafgerichtshof Karim Khan
Der Chefankläger des IStGH hat am Montag Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu sowie die Hamas-Führung beantragt (Archivbild). Bild: Peter Dejong/REUTERS

Beide Parteien kritisierten die Entscheidung des IStGH-Chefanklägers. Israels Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem  "moralischen Skandal von historischem Ausmaß" und wies "einen Vergleich" zwischen der demokratisch gewählten Führung Israels mit der Hamas vehement zurück.

Deutschland stört sich an "Gleichsetzung" durch Haftbefehle

Die EU-Länder, welche - anders als Israel - allesamt Vertragsstaaten des IStGH sind, reagierten unterschiedlich auf die Ankündigung. Deutschland betont, es respektiere die Unabhängigkeit des Strafgerichtshofes, kritisierte aber die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen die Hamas-Führung und israelische Amtsträger. Dadurch entstünde der "unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung".

Der IStGH habe nun sehr unterschiedliche Sachverhalte zu beurteilen, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes mit. Deutschland erinnert auch an Israels Recht Israels auf Selbstverteidigung unter Einhaltung des humanitären Völkerrechts.

Österreichs Kanzler Karl Nehammer teilte auf X (vormals Twitter) mit, es sei "nicht nachvollziehbar," dass die Hamas in einem Atemzug mit demokratisch gewählten Vertretern Israels genannt werde. Auch der tschechische Premierminister Fiala nannte dieses Vorgehen "entsetzlich und völlig unakzeptabel".

Die USA kritisieren Khan 

Auch aus Washington kam deutliche Kritik an Khans Entscheidung. Der US-amerikanische Präsident habe sich "empört" über die Entscheidung gezeigt, berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Bei einer Rede im US-Kongress bezeichnete der amerikanische Außenminister Antony Blinken die Entscheidung Khans als "zutiefst falsch" und zeigte sich bereit dazu, gemeinsam mit dem Kongress an einer "angemessenen Antwort" zu arbeiten. Die Entscheidung könnte die laufenden Bemühungen um ein Abkommen für eine Waffenruhe in Gaza gefährden, so Blinken. Die Hamas werde so ermutigt, und das sei das Haupthindernis für ein Abkommen, konkretisierte ein Sprecher Blinkens.

Unter der Vorgängerregierung Donald Trumps hatten die USA Sanktionen gegen die ehemalige Chefanklägerin Fatou Bensouda wegen ihrer Ermittlungen in Afghanistan verhängt. Diese wurden  2021 aufgehoben. 

Unterstützung für Haftbefehle aus Frankreich und Belgien

Doch nicht alle Staaten schließen sich dieser Kritik an. So erklärte Frankreich, den IStGH und dessen Unabhängigkeit sowie dessen "Kampf gegen die Straflosigkeit in allen Situationen zu unterstützen." Das Land betont, dass es bereits seit mehreren Monaten auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts im Gazastreifen poche. Das belgische Außenministerium sprach auf X von einem "wichtigen Schritt in den Ermittlungen" und sicherte dem IStGH seine Unterstützung zu.

Menschenrechtler begrüßen Schritt gegen Straflosigkeit

Menschenrechtsorganisationen begrüßen die Entscheidung Karim Khans, die Haftbefehle zu beantragen. "Die Opfer schwerer Übergriffe in Israel und Palästina sind seit Jahrzehnten mit einer Mauer der Straflosigkeit konfrontiert," erklärte Balkees Jarah, stellvertretende Direktorin für internationale Gerechtigkeit bei Human Rights Watch.

Der Schritt des Chefanklägers öffne die Tür, um diejenigen, die für die Gräueltaten der letzten Monaten verantwortlich seien, bei einem fairen Verfahren zur Verantwortung zu ziehen.

Auch Christian Mihr, stellvertretender Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sieht eine "Chance, den jahrzehntelangen Kreislauf der Straflosigkeit in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten zu durchbrechen." Der Schritt des Chefanklägers sende eine "wichtige Botschaft."

Haft­be­fehle gegen Net­anjahu und Hamas-Führer bean­tragt

IStGH-Chefankläger Khan verbittet sich Beeinflussung

Bereits Anfang Mai, als Medien über einen möglichen Haftbefehl gegen Israels Premier berichteten, hagelte es Kritik an Kahn. Bereits damals erklärte Khan, die Behinderung, Einschüchterung oder Beeinflussung eines Bediensteten des Gerichtshofes könne strafbar sein. Nun wiederholte Khan die Forderung, entsprechende Versuche sofort zu beenden.

Amnesty-Deutschland-Vizechef Christian Mihr rief alle Staaten dazu auf, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen. Dabei richtete er sich explizit auch an die deutsche Bundesregierung: Diese solle Versuche unterlassen, das Gericht einzuschüchtern oder unter Druck zu setzen.

In einem nächsten Schritt wird nun die Vorverfahrenskammer des IStGH die Haftbefehle prüfen. Eine Entscheidung könnte mehrere Wochen dauern. 

DW Mitarbeiterin Lucia Schulten
Lucia Schulten Korrespondentin in Brüssel