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Herzschlagfinale an der Copacabana

8. August 2016

Wie bei den Männern wird auch das Straßenrennen der Frauen zu einem packenden Krimi. Und wieder entscheidet die gefährliche Schlussabfahrt mit über Sieg und Niederlage. Joscha Weber berichtet aus Rio.

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Am Ende hate sie die schnellsten Beine: Anna van der Breggen holte sich im Sprint Gold. (Reuters)
Bild: Reuters/P. Hanna

Und wieder diese Abfahrt. Fünf Kilometer lang, steil abfallend, dicht bewaldet und dadurch ziemlich dunkel, neuasphaltiert, aber eben auch schmal und sehr kurvig. Der Weg hinab vom beliebten Aussichtspunkt Vista Chinesa hinab zum Botanischen Garten in Rio wurde zu einem der Hauptdarsteller der olympischen Radrennen. Am Vortag stürzten hier reihenweise Favoriten im Männerrennen und das ärztliche Bulletin am Morgen danach berichtet unter anderem von einem Beckenbruch (Sergio Henao), einem Schlüsselbeinbruch (Vincenzo Nibali) und einem Schulterblattbruch (Richie Porte). Und auch bei den Frauen, die sich glücklicherweise nur einmal in die Abfahrt durch den städtischen Dschungel stürzen mussten, gab es einen folgenschweren Crash: In Führung liegend verbremste sich die Niederländerin Annemiek Van Vleuten und landete statt auf dem Podium im Krankenhaus. Der Niederländerin erlitt eine schwere Gehirnerschütterung sowie drei kleinere Brüche im Lendenwirbelbereich. Öffentlichkeit und Fahrerfeld reagierten geschockt. War die Strecke zu gefährlich?

Nein, sagen die meisten Radsportlerinnen und Radsportler, die technische Abfahrten gewohnt sind. Aber grenzwertig war sie, meinte Lisa Brennauer im DW-Gespräch. "Die Abfahrt war tückisch. Aber wir kannten den Kurs alle genau und wussten, was uns erwartet. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen Risiko und Erfolg", so Brennauer, die damit genau wie Simon Geschke die Verantwortung für die eigene Sicherheit eher beim Athleten selbst sieht. Van Vleuten jedenfalls hatte Glück im Unglück und handelte sich nach ersten Informationen keine schwerwiegenden Verletzungen ein: "Sie scheint okay zu sein", teilte der niederländischen Radsportverbandes HNWU mit. "Ich habe sie liegen gesehen und war sehr geschockt", sagte Olympiasiegerin Anna van der Breggen über ihre Teamkollegin, "aber dann kam Emma Johansson und sagte: 'Los, wir machen das für Annemiek!' Das hat mir geholfen, den Schalter umzulegen."

Abbott wird 100 Meter vor dem Ziel gestellt

Das gelang van der Breggen sehr erfolgreich. Denn gemeinsam mit der Schwedin Emma Johansson und der Italienerin Elisa Longo Borghini schaffte sie das scheinbar Unmögliche: Sie holte die nach Van Vleutens Sturz alleine enteilte US-Amerikanerin Mara Abbott ganz knapp vor dem Zielstrich noch ein und gewann im Sprint Gold für die Rad-Nation Niederlande. Ein wahres Herzschlagfinale an der Copacabana. Totunglücklich war dagegen Abbott, die erst 100 Meter vor dem Ziel gestellt wurde und im DW-Interview versuchte, ihre Enttäuschung in Worte zu fassen. "Die Chance war da, aber am Ende haben dann eben ein, zwei Sekunden gefehlt."

Gefehlt im Finale haben die Deutschen. Kapitänin Claudia Lichtenberg war als starke Bergfahrerin auserkoren, die Kohlen für den Bund Deutscher Radfahrer aus dem Feuer zu holen. Doch das misslang. Lichtenberg erwischte einen schwarzen Tag und verlor im steilen Anstieg hinauf zur Vista Chinesa schnell den Anschluss an die Spitze. "Es ist sehr schade, dass sich unsere Arbeit nicht im Ergebnis widerspiegelt", sagte Lisa Brennauer, die als 19. Beste Deutsche wurde, aber eigentlich für Claudia Lichtenberg gefahren war. "Denn bis dorthin lief alles sehr gut und wie geplant."

Szene olympisches Radrennen der Damen (Reuters)
Ein abwechslungsreiches Rennen rund um Rio und immer waren die deutschen Fahnen vorne - außer im FinaleBild: Reuters/E. Gaillard

Damit meint Brennauer die offensive Taktik, die das deutsche Team von Auswahl-Trainer Ronny Lauke von Beginn an zeigte. Nachdem sich Lotte Kopecky aus Belgien früh vom Feld absetzen konnte, attackierte Trixi Worrack auf dem Weg von Rio Richtung Westen. Als sie nicht richtig wegkam, sprang Romy Kasper in den Wind und fuhr lange als Solistin der einsamen belgischen Spitzenreiterin hinterher. Das kostete im strammen Seitenwind an der Küste von Barra allerdings viel Kraft. Und da die Niederländerinnen das Tempo auf dem Rundkurs von Grumari erhöhten, war es bald vorbei mit Kaspers Flucht. Hinter der weiter führenden Belgierin bildete sich eine Verfolgergruppe, zu der plötzlich alle favorisierten Nationen gehören wollten: Zur Flucht-Initiatorin Ellen van Dijk (Niederlande), schlossen unter anderen namhafte Fahrerinnen wie die italienische Ex-Weltmeisterin Giorgia Bronzini sowie die zweifache Zeitfahr-Olympiasiegerin Kristin Armstrong aus den USA auf und erneut auch Worrack.

Trixi Worrack: trotz Nierenverlust eine echte Leistungsträgerin

Die 34-jährige Allrounderin war ständig an der Spitze präsent und das allein verdient schon Hochachtung. Denn Worrack verlor bei einem Sturz im März eine Niere - und fährt nun wieder Rennen, als sei nichts gewesen. "Und jetzt fahre ich hier in den olympischen Rennen mit, verrückt, nicht wahr?!“, sagte sie vor dem Wettkampf der "FAZ". Ihre Gruppe wurde auf dem welligen Kurs allerdings ebenso vom aufmerksamen Feld gestellt wie die einsame Solistin Kopecky. Auf dem flachen Rückweg nach Rio, entlang der an diesem Tag stürmischen Küste, löste sich dann erneut eine Gruppe. Natürlich wieder mit dabei: die unermüdliche Trixi Worrack. Neben ihr aber auch zwei sehr ernsthafte Sieganwärterinnen: Die Olympiasiegerin von 2012, Marianne Vos aus den Niederlanden, und die französische Weltmeisterin von 2014, Pauline Ferrand-Prévot. Schnell fuhr diese prominente Spitzengruppe einen Vorsprung von über einer Minute heraus und forderte so die vorne nicht vertretenen Amerikanerinnen im Hauptfeld heraus und erreichte gemeinsam den Schlussanstieg.

Der war dann aber für alle Ausreißerinnen zu schwer und die Favoritinnen übernahmen schnell das Zepter. Bis zur Kuppe zeigten sich Van Vleuten und Abbott als die stärksten Fahrerinnen – doch beide scheiterten kurz darauf tragisch.