Der Glaube an eine unfehlbare Kirche
Im Frühjahr 2002 war ich als junger Journalist im Studio des Zweiten Deutschen Fernsehens in New York eingesetzt, als die Missbrauchsfälle im Erzbistum Boston der katholischen Kirche ans Licht kamen. Ich fuhr mit dem Schnellzug nach Norden, um in der Stadt den Anwalt der Missbrauchten zu treffen, der zudem eine Begegnung mit einem Opfer organisierte. Der Bostoner Erzbischof, Kardinal Bernard Law, stand recht bald im Mittelpunkt der Enthüllungen: Ihm wurde vorgeworfen, Vorfälle vertuscht zu haben. 20 Jahre später ist klar: Boston ist überall und mitnichten ein Einzelfall.
So wie in Boston wurde auch in Buenos Aires und in München agiert: Opfer klein gehalten, die Priesterkaste geschützt, Straftäter unbehelligt in die nächste Pfarrei versetzt. Wie Bernard Law haben auch andere Kirchenobere, zum Beispiel Jorge Bergoglio und Joseph Ratzinger gehandelt. In der Konsequenz ein systemisches Versagen: Weil die Kirche ihre Priester über die Laien, die gewöhnlichen Gläubigen, stellt. Diese Kleriker stehen einander bei, verbunden durch ihr Versprechen, aus Liebe zur Kirche ein keusches und eheloses Leben zu führen. Das ist die eigentliche Ursache für den Missbrauchsskandal.
Der emeritierte Papst muss zurückrudern
Dass sich ein so aufgebauter Machtapparat nicht über Nacht ändern will, haben die vergangenen 20 Jahre gezeigt. Bernard Law bekam nach seinem Rücktritt vom Bostoner Bischofsstuhl ein dekoratives Amt an einer der Hauptkirchen Roms, aus Jorge Bergoglio und Joseph Ratzinger wurden die Päpste Franziskus und Benedikt XVI.
Im nunmehr x-ten Aufzug dieses Trauerspiels steht wieder einmal Benedikt XVI. im Mittelpunkt. Als Präfekt der Glaubenskongregation hat er sich in der Tat Verdienste bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs erworben. Er war damals der starke Mann hinter Papst Johannes Paul II., den das Thema nicht wirklich interessierte und der ein inniges Verhältnis unterhielt zum Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel, welcher mittlerweile als Pädophiler überführt ist. Aber als Erzbischof von München und Freising soll Joseph Ratzinger hingegen - laut einem neuen Gutachten - an vier Fällen von Vertuschung beteiligt gewesen sein.
Der emeritierte Papst bestritt in seiner Zulieferung zu dem Gutachten, von einem besonders schweren Fall gewusst zu haben. Doch inzwischen musste er zurückrudern: In einer entscheidenden Sitzung, in der die Weiterverwendung eines straffällig gewordenen Priesters in seinem Erzbistum diskutiert wurde, war er eben doch anwesend.
Das angeblich verspielte Erbe
Bei diesem peinlichen Lügenskandal geht es am Ende nicht darum, ob sich der inzwischen 94-jährige Joseph Ratzinger an die Teilnahme an einer Sitzung vor mehr als 40 Jahren erinnern kann. Auch wenn man ihm glauben möchte, dass ihm diese Teilnahme entfallen sein könnte, dürfte ihm mittlerweile mehr als klar sein, dass Kirchenfürsten wie er lange ihre Pflicht vernachlässigt haben. Und dass gewiss nicht die Teilnahme (oder Nicht-Teilname) an einer einzelnen Sitzung die jüngere Kirchengeschichte in eine andere Bahn gelenkt hätte und dann alles anders - besser! - gekommen wäre. Dass er keinerlei Einsicht gewonnen hat, belegt seine 82-seitige Stellungnahme gegenüber den Münchner Gutachtern, die Teil von von der Bericht geworden ist.
Joseph Ratzinger, meinen nun einige Kommentatoren, verspiele mit diesem Text sein theologisches Erbe. Da bin ich mir nicht so sicher. Der Papst ist ein ausgewiesener Kenner der Patristik, das sind die Lehren der sogenannten Kirchenväter, herausragender Bischöfe der ersten acht Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung. In dieser Periode bekam auch das antike Naturrecht einen Platz im christlichen Denken. Dem Menschen wird darin eine Rolle im Kosmos zugesprochen, die er zu erfüllen hat: Männer auf die eine, Frauen auf die andere Weise. Dort hat auch die katholische Vorstellung ihren Ursprung, dass nur ehelicher, heterosexueller Sex in der Ordnung der Welt vorgesehen sei. Alles, was von dieser Ordnung abweicht, ist dagegen Sünde. Und alles, was auf den Pfad der Abweichung führt, Versuchung.
Naturrecht als Mittelpunkt des Denkens
Das ist tatsächlich bis auf den heutigen Trag katholische Lehre. Die Verbindung, die das Christentum in den ersten Jahrhunderten mit den antiken Rechtsideen und der hellenistischen Philosophie eingegangen ist, ist in den katholischen Teilen Europas nun zum Verhängnis geworden. Genau dieses Naturrecht steht nämlich im Mittelpunkt des Denkens von Joseph Ratzinger.
Was in der Kirche Schreckliches an Missbrauch geschehen ist, kann nach diesem Verständnis nicht an der grundsätzlich heiligen Kirche, sondern nur am Versucher, dem Teufel, liegen. Dieser Glaube verhindert nicht nur jede selbstkritische Betrachtung, sondern auch eine Erneuerung der Struktur der Kirche. Benedikt sieht das Naturrecht als überlegen an gegenüber dem, was er als "Zeitgeist" brandmarkt. Naturrecht ist göttlich, Zeitgeist ist teuflisch. Dieses Motiv durchzieht sein Denken seit der Studentenrevolte der späten 1960er-Jahre. Ratzinger verspielt gar nichts, er bleibt sich vielmehr überaus treu.
Andere als er selbst werden mit seinem Namen das Ende der Machtinstitution Kirche verbinden. Denn der moralische Kahlschlag, den der Missbrauchsskandal verursacht hat, hat auch nun auch viele der bis zuletzt Überzeugten aus der Papstkirche getrieben. Nur noch knapp zehn Prozent der Katholiken besuchen am Sonntag in Deutschland die Heilige Messe - Tendenz sinkend. So gilt für die Una Sancta in nicht allzu ferner Zukunft dasselbe, was man einstmals in Richtung der zerfallenden DDR rief: "Der Letzte macht das Licht aus."
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs, Research Associate am Internet Institut der Universität Oxford und Honorarprofessor für Ethik und Theologie an der Leuphana Universität. Der promovierte Linguist und Theologe arbeitet zu Narrativen der Identität, der Zukunft der Demokratie und den Grundlagen einer säkularen Gesellschaft. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die freie Welt bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und der Universität von Cambridge inne. Von 2009 bis 2015 gab er als Chefredakteur das von ihm gegründete Magazin "The European" heraus.