Gipfel in Washington: Wie "Trump-fest" kann die NATO werden?
9. Juli 2024Wenn die 32 Staats- und Regierungschefs in dieser Woche in Washington zum NATO-Gipfel zusammenkommen, feiern sie das 75-jährige Bestehen der Allianz. Der scheidende Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete die NATO im Interview der DW als "erfolgreichstes und stärkstes Bündnis der Geschichte".
Seit der russischen Invasion in der Ukraine ab 2022 hat die NATO zu neuer Stärke gefunden und entschlossen auf den Krieg vor der eigenen Haustür reagiert. Ihre Mitglieder haben ihre militärische und finanzielle Unterstützung für das Nicht-Mitglied Ukraine nach und nach ausgebaut.
500.000 einsatzbereite Soldaten
Parallel hat die NATO neue Pläne für die Verteidigung des Bündnisgebiets entwickelt und mehr Truppen an die Ostgrenze und damit in die Nachbarschaft Russlands verlegt. Inzwischen befinden sich 500.000 einsatzbereite Soldaten in Europa. Zudem begrüßte die NATO die nordeuropäischen Länder Schweden und Finnland in ihren Reihen - zwei starke Demokratien mit modernen Streitkräften.
Die NATO-Staaten investieren mittlerweile mehr in ihre Verteidigung. Erfüllten 2021 gerade einmal neun Mitglieder das Bündnisziel, mindestens zwei Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, sind es inzwischen 23. Eine "Rekordzahl", so Stoltenberg.
Ist Joe Biden noch amtstauglich?
Eine gute Ausgangslage also, um den Gipfel in Washington ab Dienstag für ein Signal der Stärke und Geschlossenheit zu nutzen. Doch droht das Treffen im US-Wahljahr von der dortigen Innenpolitik überschattet zu werden: Angesichts banger Fragen, ob Präsident Joe Biden noch amtstauglich ist und einen zweiten Wahlsieg einfahren kann, befürchten viele Europäer die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus.
Während seiner Amtszeit hatte Trump mehrfach gegen die NATO gewettert und gedroht, von den Europäern Geld für den Schutz durch dort stationierte US-Truppen zu verlangen. Vor ein paar Monaten sagte er bei einem Wahlkampfauftritt sogar, Russland könne NATO-Staaten, die weniger als zwei Prozent für Verteidigung ausgeben, "antun, was auch immer sie verdammt nochmal wollen".
Gefahr für den transatlantischen Verbund
Die Sorgen vor den Verwerfungen im Falle einer zweiten Trump-Präsidentschaft wurden im Brüsseler NATO-Hauptquartier und in europäischen Hauptstädten lange kleingeredet. Diplomaten erinnerten daran, dass es sich um demokratische Wahlen handele und politischer Wandel überall in der Allianz dazugehöre.
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte der DW vor ein paar Monaten: "Amerikaner wissen sehr gut, was sie am transatlantischen Bündnis haben. Und jeder weiß, wer Hand anlegt an die transatlantischen Bänder, der gefährdet eben auch seine eigenen geopolitischen und strategischen Interessen."
NATO "Trump-fest" machen
Aktuellen Berichten zufolge gilt ein kompletter Rückzug der USA aus der NATO unter Trump als unwahrscheinlich - wohl aber könnte er das amerikanische Sicherheits-Engagement in Europa stark zurückfahren. Für die NATO, in der die USA bislang eine massive militärische Vormacht innehaben, hätte das schwerwiegende Folgen.
In den vergangenen Monaten hat Stoltenberg deshalb gegenüber den europäischen Mitgliedern auf eine Sicherheitsarchitektur gedrängt, die wohl eher im Sinne Trumps wäre. Dass mehr und mehr Länder ihre Verteidigungsausgaben auf die NATO-Zielvorgabe anheben, hängt damit zusammen.
Selbstgefällige Europäer?
Aus Sicht von Majda Rude vom European Council on Foreign Relations geben sich Stoltenberg und viele europäische Regierungen dabei "sehr selbstgefällig". Im DW-Gespräch wies die Analystin darauf hin, dass neun Länder - darunter Kanada, Italien und Spanien - nach wie vor weniger als zwei Prozent ihres BIP für Verteidigung aufwendeten. "Wenn sehr kleine Länder mit geringem BIP 3,5 Prozent investieren, wird das auf dem Schlachtfeld keinen großen Unterschied machen", meint Rude.
Im Vorfeld des Washingtoner Gipfels rief Polens Präsident Andrzej Duda - ein regelrechter Trump-Verehrer - die NATO-Länder auf, die Zielmarke auf drei Prozent zu erhöhen. Die Debatte um Lastenteilung würde wohl kaum schnell verebben, glaubt Ian Lesser von der transatlantischen Denkfabrik German Marshall Fund. Und zwar unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen.
Unvermeidliche Lücke?
"Die benötigten Veränderungen bei Budgets, Planungen, Strategie und öffentlicher Akzeptanz werden nicht über Nacht erreicht", sagt GMF-Analyst Lesser im Gespräch mit der DW. Als Beispiel nannte er eine leistungsfähigere Rüstungsindustrie in Europa . Diese aufzubauen, könnte Jahrzehnte dauern. "Es gibt eine unvermeidliche Lücke zwischen den Wunschvorstellungen und dem bisher Erreichten".
Diese Lücke könnte insbesondere auch die westliche Unterstützung für Kiew zu spüren bekommen.
Neue NATO-Struktur für die Unterstützung der Ukraine
Beim NATO-Gipfel in Washington werden die Staats- und Regierungschefs wohl einen Plan absegnen, der dem Bündnis erlaubt, die Koordination der Hilfen und Ausbildung ukrainischer Soldaten zu übernehmen. Aus Sicht des scheidenden Generalsekretärs Jens Stoltenberg wird dieses Vorhaben die Unterstützung der Ukraine "auf festere Basis für die kommenden Jahre" stellen. Im deutschen Wiesbaden, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereits amerikanische Soldaten beherbergt, soll dafür ein Hauptquartier aufgebaut werden, in dem fast 700 Personen aus Bündnis- und Partnerländern arbeiten sollen.
Mit der neuen Struktur reagiert die NATO auf die monatelange Verschleppung eines neuen US-Hilfspakets für Kiew. Sie soll die Unterstützung der Ukraine durch die NATO auch gegen einen möglichen Präsidenten Trump absichern, der im Falle einer Wiederwahl derartige Lieferungen zu stoppen versuchen könnte.
Keine NATO-Einladung für Kiew
Aus Ian Lessers Sicht ist das neue Hauptquartier Teil einer "natürlichen Evolution", die NATO bei der Organisation der Ukraine-Unterstützung "näher ins Zentrum zu rücken". Diese Initiative sei ein Alternativweg zur Frage einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft, die innerhalb des Bündnisses weiter hoch umstritten ist.
Beim Thema Militärhilfe sind die USA für Kiew weiter ein "extrem wichtiger Partner", sagt Lesser vom German Marshall Fund. "Zusammenaddiert haben die Europäer mit ihren Militärhilfen vielleicht einen ähnlichen Beitrag geleistet wie die Vereinigten Staaten."
Politische Turbulenzen in Europa
Falls die USA ihre Unterstützung zurückfahren, ist eine entscheidende Frage: Sind die Europäer nicht nur in der Lage, sondern auch willens, diese Lücke zu füllen? Majda Rude sieht in einem Europa, das in dieser Frage uneins ist, ein großes Risiko für die Zukunft. Denn gerade sind viele Demokratien geschwächt: Wenn der französische Präsident Emmanuel Macron in Washington eintrifft, steckt ihm noch die Parlamentswahl von Sonntag in den Knochen, die auf eine schwierige Regierungsbildung hindeutet. In Deutschland muss Bundeskanzler Olaf Scholz den wachsenden Einfluss der extremen Rechten kontern. Und in Großbritannien hat Premierminister Keir Starmer gerade erst sein Amt angetreten.
"Die Europäer sorgen sich nicht nur vor den Wahlergebnissen in den USA und ihren potenziellen Auswirkungen auf die NATO, sondern auch vor den Auswirkungen auf politische Entwicklungen auf ihrem Kontinent", meint Lesser vom German Marshall Fund. In gewisser Weise gebe es eine Stimmung politischer Unsicherheit auf beiden Seiten des Atlantik.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Englisch veröffentlicht.