Was Schwedens NATO-Beitritt für alle Seiten bedeutet
8. März 2024Es sollten die schnellsten Aufnahmeverfahren der Geschichte werden, versprachen NATO-Vertreter den Regierungen Schwedens und Finnlands, als sich die beiden nordeuropäischen Länder im Mai 2022 gemeinsam um die Mitgliedschaft in dem Verteidigungsbündnis bewarben. Und dabei blieb es auch - vor allem für Finnland, das knapp elf Monate später seine Beitrittsurkunde erhielt. Schweden hingegen musste lange um die Mitgliedschaft ringen - zuerst mit der Türkei und dann auch noch mit Ungarn.
Oscar Jonsson von der staatlichen Verteidigungshochschule in Stockholm sagt, die Hängepartie zwischen dem Beitrittswunsch und der Ablehnung einiger im Grunde verbündeter Regierungen sei die "schlimmste Situation" für Schweden gewesen: "Schauen wir nur auf die jüngsten Erfahrungen: Da ist Russland in zwei Staaten einmarschiert, die es auf dem Weg in die NATO sah", sagt Jonsson der DW unter Verweis auf die Ukraine und Georgien. NATO-Staaten habe Russland aber nie angegriffen.
Türkische und ungarische Hinhaltetaktik
Allein 20 Monate brauchte es, bis das türkische Parlament dem Beitritt Schwedens zustimmte, und einige weitere Wochen, bis auch Ungarn den Weg freimachte. Für beides war viel Diplomatie nötig und - Zufall oder nicht - beiden Zustimmungen gingen Geschäfte mit Kampflugzeugen unmittelbar voraus.
Die Türkei wartete, bis die USA einen langersehnten F-16-Deal billigte. Ungarn sagte Schweden die Lieferung von vier zusätzlichen Saab Gripen-Kampfflugzeugen zu, bevor das Parlament in Budapest in die entscheidende Abstimmung ging.
Endlich Schutz durch Artikel 5
Um keiner Militärallianz beitreten zu müssen, hatte Schweden über die Jahre diverse bilaterale Sicherheitsvereinbarungen mit NATO-Staaten getroffen. Aber keine davon hatte die Verbindlichkeit von Artikel 5 der NATO-Verträge, nach dem ein bewaffneter Angriff auf einen Mitgliedstaat als Angriff auf alle verstanden wird.
Der schwedische Verteidigungsminister und ehemalige Vorsitzende des parlamentarischen Verteidigungsausschusses Pal Jonson hatte jahrzehntelang für Schwedens NATO-Beitritt argumentiert: "Wir können hoffen, wir können annehmen, wir können uns wünschen, dass die NATO uns (im Fall der Fälle, d. R.) unterstützt, aber wir können nicht sicher sein, bis wir der Allianz beitreten."
Doch diese Sorge hatte die Mehrheit der schwedischen Bevölkerung nicht überzeugt, bis der russische Präsident Wladimir Putin einen Großangriff auf die Ukraine startete. Und bis der Nachbar Finnland klarmachte, es werde den Mitgliedsantrag nicht länger aufschieben.
Jonsson: Schweden hat "Sonderstatus" schon lange verloren
Häufig wird es so dargestellt, dass Schweden mit dem NATO-Beitritt sein lange gehegtes und gepflegtes Selbstbild als neutrale Nation aufgeben würde. Doch das sieht der Verteidigungsexperte Jonsson anders: "Der viel größere zivilisatorische Wandel war der Beitritt zur Europäischen Union (im Jahr 1995, d. R.), die eine supranationale Autorität hat und eigene Gesetze beschließen kann, die die schwedische Lebensweise in viel spürbarerer Weise beeinflussen", sagt er. Die NATO hat eine solche Autorität nicht.
Hinzu komme, dass Schweden an praktisch allen Militäroperationen und ‑übungen der NATO teilgenommen habe, seit das Land 1994 der "Partnerschaft für Frieden" beigetreten ist, so Jonsson. Gemeinsame Manöver haben sogar bereits auf schwedischem Territorium stattgefunden.
Auch für die NATO ist Schwedens Mitgliedschaft bedeutend
Doch nicht nur in Schweden beruhigt der Beitritt Verteidigungsexperten. Jim Townsend, Analyst am Center for a New American Security (CNAS), war lange Zeit im US-Verteidigungsministerium zuständig für NATO-Politik in Nordeuropa. Nachdem er einen Großteil seines Berufslebens damit zugebracht habe, die nordischen Armeen bestmöglich in die der NATO zu integrieren, bedeuteten ihm die Beitritte Schwedens und Finnlands auch persönlich viel, sagt Townsend: "Es fühlt sich an wie Weihnachten."
Für die NATO aber seien die neuen Mitglieder von entscheidender Bedeutung. So eng beide Länder mit den USA auch verbündet gewesen seien, sagt Townsend, hätte sich keines der drei auf die Unterstützung der anderen verlassen können. In ihren Szenarien für einen Verteidigungsfall im Ostseeraum etwa hätten US-Militärs zum Beispiel nur auf Überflugrechte für die Territorien der beiden Länder hoffen, sie aber nicht fest einplanen können, erklärt der Insider: "Vielleicht hätten sie sich auch einfach herausgehalten … Man wusste es nie genau."
Nun aber sei es an Russland, sich Sorge zu machen, sagt Townsend, denn mit Schweden stärke die NATO ihre Präsenz in der Arktis. Dort habe Russland seine sensibelsten Militäreinrichtungen wie U-Boot-gestützte Raketen und strategische Bomber stationiert. Außerdem führe es dort viele Experimente durch.
Schweden: militärisch und gesellschaftlich gut vorbereitet
Neben geostrategischen Vorteilen bringt Schweden auch hervorragende militärische Potenziale mit in die NATO. Das Washingtoner Wilson Center hebt drei davon hervor: die Verteidigungsindustrie, die zu den größten und fortschrittlichsten Europas gehöre; eine hohe technologische Kompetenz im Privatsektor verknüpft mit einer großen Menge militärisch kritischer Rohstoffe wie Eisenerz und seltene Erden; die schwedische Luftwaffe, eine der größten des Kontinents und die größte Nordeuropas.
Robert Pszczel, ehemaliger Leiter der mittlerweile geschlossenen NATO-Vertretung in Moskau, nannte der DW einen weiteren Aspekt der schwedischen Mitgliedschaft: "ein sehr fundiertes und realistisches Verständnis der Gefahr, die Putin darstellt". Entsprechend gut sei die schwedische Gesellschaft auf einen Krisenfall vorbereitet, meint der polnische Diplomat: "Das Wichtigste ist, sich dessen bewusst zu sein und nicht in Panik zu verfallen, sondern alles Notwendige zu tun, um sich darauf vorzubereiten." Auch das sei ein wichtiger Beitrag, gerade weil Schwedens Mitgliedschaft Russland zu noch aggressiverem Verhalten provozieren könne, sagt Pszczel. Schwedens Beitritt sei ein großer Fehler der russischen Politik, denn das sei mit Sicherheit nicht ihr Ziel gewesen.
Aus dem Englischen von Jan D. Walter