Generation Gazastreifen
6. April 2018An Nachschub an alten Reifen mangelt es derzeit nicht im östlichen Grenzgebiet in Gaza-Stadt. Schwer beladene Tuc-Tucs und Mini-Transporter sind seit Tagen auf den staubigen Sandwegen Richtung Sperrzaun unterwegs. Die Reifen sollen angezündet werden, um damit den israelischen Snipern die Sicht zu versperren.
"Das wird ein schwarzer Freitag", sagt ein junger Mann und geht zu einer Gruppe von jungen Leuten, die seit vergangener Woche ihre Nachmittage im Grenzgebiet verbringen. Der Grenzzaun liegt nur wenige hundert Meter weit weg, dahinter ist das ein oder andere israelische Militärfahrzeug gut zu erkennen. Wie schon am vergangenen Freitag hat sich auch diesmal nichts am Einsatzbefehl für die israelischen Soldaten geändert, die rund um den Gazastreifen positioniert sind. Jeder, der sich in der Pufferzone oder Richtung Grenzzaun bewege, gelte als potentielle Bedrohung und damit als Ziel für Scharfschützen.
"Ich denke, auch die andere Seite versteht, dass es sich nicht lohnt, dies weiter fortzuführen, und ich warne sie davor, mit den Provokationen weiterzumachen", sagt der israelische Verteidigungsminister Lieberman. Israel beschuldigt die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, die angeblich friedlichen Proteste für terroristische Zwecke nutzen zu wollen. Bereits rund 30 Palästinenser sind nach offiziellen Angaben bisher bei den "Tagen des Zorns" im Gazastreifen ums Leben gekommen.
Von all dem wollen die jungen Leute hier nichts wissen – ob Hamas oder Fatah, hier geht es um ihre Zukunft. "Was hat man schon zu verlieren. Es ist wichtig, hier zu sein und dass wir uns für unsere Rechte einsetzen", sagt Mohmmed al Aoun, der sich noch eine Kuffiyeh ('Palästinensertuch') um den Kopf drapiert. Der junge Mann trifft sich hier mit Freunden, jeden Nachmittag, auch um sich die Zeit zu vertreiben. Denn davon haben die meisten hier ungewollt zu viel.
Gazas Bevölkerung ist jung, und trotz guter Ausbildung findet fast jeder zweite keinen Job. Die Arbeitslosigkeit der unter 30-Jährigen liegt bei über 60 Prozent. "Was sollen wir, die jungen Leute hier schon für eine Zukunft haben? Alles hängt doch von der Blockade ab", sagt Mohammed und meint die Abriegelungspolitik Israels.
Abgeriegelt und abgehängt
Für viele geht es um weit mehr als das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, das dem Protest den Namen gibt: Sie wollen die Welt darauf aufmerksam machen, dass Gaza seit über einem Jahrzehnt von Israel und Ägypten abgeriegelt ist. Eine ganze Generation hat den Gazastreifen noch nie verlassen.
Kurz vor Sonnenuntergang ähnelt die Stimmung im Zeltlager im Stadtteil Shejaia im Osten von Gaza-Stadt einem Volksfest: Kaffee – und Teeverkäufer haben ihre Stände aufgebaut. Es gibt WiFi und frische Fruchtsäfte. In einem Zelt wird Fladenbrot gebacken, nach alter Tradition. Es ist ein Kommen und Gehen zwischen dem kleinen Zeltdorf, das an die Flüchtlinge von 1948 erinnern soll und dem extra aufgeschütteten Erdwall einige hundert Meter weit vom Grenzzaun entfernt. Hier sitzen sie und schauen auf die andere Seite - nach Israel.
"Ich will, dass es eine andere Art von Protest ist, etwas Neues, etwas das nicht von den politischen Parteien abhängig ist und ein Protest, der friedlich ist", sagt Amal Abu Asr, eine junge Palästinenserin. Der friedliche Protest wird hier von vielen betont. Doch die Realität sieht anders aus.
Freitag vor einer Woche wurden mindestens 16 Demonstranten von israelischen Scharfschützen erschossen. Mehrere hundert sind verletzt, so die Zahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums. Menschenrechtsorganisationen wie Al Mezan haben das Vorgehen scharf kritisiert. "Das Problem ist, wie schon so oft in Vergangenheit, dass es keine Rechenschaftspflicht für die Aktionen der Soldaten gibt. Und solange dies so ist, werden wir auch weiterhin sehen, dass geschossen wird. In diesem Fall auf Demonstranten, die an einem friedlichen Protest beteiligt waren", sagt Direktor Issam Younis.
Angst vor neuer Gewalt
Ursprünglich wurde die Aktion von jungen Leuten über soziale Netzwerke organisiert. Doch mittlerweile unterstützen fast alle politischen Parteien und Gruppierungen die Proteste, allen voran die Hamas. Sie hat zur Teilnahme aufgerufen und stellt einen Großteil der Logistik bereit. Die Proteste sollen bis Mitte Mai gehen. "Es steht zu befürchten, dass die Situation im Grenzgebiet außer Kontrolle geraten könnte", sagt Usama Antar, Politikwissenschaftler in Gaza-Stadt. "Der nächste Protest wird zeigen, mit welcher Tendenz es weitergeht."
Auch Mohammed Sabbagh wird am Freitag wieder dabei sein. Und das, obwohl sein jüngster Bruder Bader am vergangenen Freitag erschossen worden ist. Der Schock sitzt noch immer tief. "Wir standen zwischen denen, die Steine geworfen haben und den anderen, die weiter hinten standen. Das war ein paar hundert Meter entfernt von der Grenze. Er stand neben mir, als ihn plötzlich ein Schuß in den Kopf traf", sagt Mohammed im DW-Gespräch.
Noch auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt der 20-Jährige. Er sei nicht gewalttätig gewesen, betont der Bruder. Die Mutter, Um Haitham, hört mit kaum beweglichen Gesicht zu. Sie kann die Tränen nur schwer zurückhalten: "Er war mein jüngster Sohn, er war einfach immer für mich da", sagt sie. Dass ihre Kinder zu Demonstration gehen, sieht sie mit gemischten Gefühlen. Auch wegen seines Bruders will Mohammed nun aber weiter demonstrieren. "In Gaza gibt es keine Arbeit, kein Leben. Und keiner interessiert sich für uns."