1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Klares Signal der EU an die Türkei nötig"

Kersten Knipp21. Mai 2016

Mit der Aufhebung der Immunität zahlreicher Parlamentsabgeordneter will der türkische Präsident Erdogan seine Position ausbauen, sagt die Politologin Gülistan Gürbey im DW-Interview. Die EU dürfe das nicht hinnehmen.

https://p.dw.com/p/1IsKu
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Foto: Getty Images/AFP/A. Altan)
Bild: Getty Images/AFP/A. Altan

DW: Frau Gürbey, die Mehrheit der Mitglieder des türkischen Parlaments hat am Freitag die Immunität von 138 Abgeordneten, darunter vieler der kurdischen HDP, aufgehoben. Wie ist es dazu gekommen?

Gülistan Gürbey: Es gibt mehrere Gründe. Zunächst geht der Wunsch nach Aufhebung der Immunitäten auf Staatspräsident Erdogan zurück. Er formuliert dieses Ansinnen seit rund einem Jahr, und zwar im Kontext der Strafverfolgung kurdischer Abgeordneter. Die Aufhebung ist eingebettet in Erdogans Ziel, ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem einzurichten. Zugleich will er die den Kurden verbundene und erstarkte HDP schwächen und nach Möglichkeit aus dem türkischen Parlament herauskicken.

Nicht nur die AKP hat die Aufhebung der Immunitäten unterstützt, sondern auch die Oppositionsparteien die ultranationalistische MHP und die republikanisch-kemalistische CHP. Sie betrachten die HDP als verlängerten Arm der kurdischen PKK. Zugleich verbindet alle drei Parteien der Schutz des türkischen Nationalismus, was einhergeht mit dem Schutz des zentralistisch ausgerichteten Einheitsstaats.

Hat Erdogan die Bevölkerung hinter sich?

Derzeit dreht sich alles um Bedrohung und Sicherheit. Der Bevölkerung wird suggeriert, dass die Sicherheit des Landes durch den Terrorismus der PKK und den sogenannten "Islamischen Staat" bedroht sei. In dieser Situation präsentiert sich Präsident Erdogan mit seiner AKP als diejenige Kraft, die die Sicherheit des Landes gewährleistet. Dabei wird Erdogan von mindestens der Hälfte der Bevölkerung unterstützt.

Die Politologin Gülistan Gürbey (Foto: privat)
Gülistan Gürbey: "Erdogan sieht die demokratiepolitische Kraft der HDP als Bedrohung an"Bild: privat

Allerdings gilt das nicht für die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes. Sie leidet massiv unter der laufenden Kriegsstrategie. Die Härte des Krieges wirft Fragen nach der Schutzpflicht des Staates gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung auf, die ja seine Staatsbürger sind. Viele Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem unverhältnismäßigen staatlichen Gewalteinsatz, durch den bereits viele Zivilisten zu Schaden gekommen oder sogar getötet worden sind. Im Westen des Landes wird der Krieg dennoch als legitim wahrgenommen, da die PKK als Staatsfeind Nummer 1 betrachtet wird.

Was verrät uns die Aufhebung der Immunität über die politische Kultur der Türkei?

Die politische Kultur der Türkei ist seit jeher autoritär ausgerichtet und keineswegs demokratisch fundiert. Das ist kein neues, erst unter Staatspräsident Erdogan eingetretenes Phänomen. Dieser Stil geht auf die Gründungsjahre der modernen türkischen Republik zurück, als es darum ging, einen homogenen Nationalstaat zu errichten. Dieser sollte ein ethnisch, sprachlich und kulturell türkisches Fundament haben. Dem hatte sich alles andere einzuordnen und zu assimilieren. Die Strukturen sind also alt.

Neu aber ist der Inhalt: Während es früher der säkulare Kemalismus war, ist es heute der politische Islam à la AKP. Der ist seinerseits eng verknüpft mit einem rigiden türkischen Nationalismus, einem rigiden Verständnis von Staat und Nation sowie einem Neo-Osmanismus im Sinne einer neuen Rückbesinnung auf die osmanische imperiale Zeit als neue Schöpfungsquelle für eine machtpolitisch ambitionierte Innen- und Regionalpolitik.

Ist die bewaffnete Auseinandersetzung mit der PKK der einzige Grund, warum Erdogan die HDP aus dem Parlament drängen will?

Nein, es gibt andere Gründe. Es gab und gibt nur eine einzige politische Kraft, die die Demokratie in der Türkei vorantreibt und die Omnipotenz eines rigiden Staates ablehnt, und das sind seit jeher die Kurden. Sie wurden selbst jahrzehntelang mit repressiven Maßnahmen zwangsassimiliert. Gerade aus diesem Kontext heraus hat sich ihr Widerstand und ihr demokratisches Engagement formiert. In den 1990er Jahren wurden die kurdischen Parteien mit Hilfe des Terrorismus-Vorwurfs immer wieder verboten. Dennoch haben sie sich ununterbrochen für mehr Autonomie für die Kurden, für einen besseren Schutz von Minderheiten und eine Stärkung der türkischen Demokratie eingesetzt.

Bei den letzten Wahlen im Juni und November 2015 hat die HDP trotz massiver Diffamierung durch Staatspräsident Erdogan und seiner AKP-Regierung die Zehn-Prozent-Hürde überwunden und erstmals den Einzug in das türkische Parlament geschafft. Die HDP konnte viele Stimmen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten auf sich vereinen und zum Sammelbecken aller liberalen Kräfte - und keineswegs nur der Kurden - werden. Es ist diese demokratiepolitische Kraft der HDP, die Staatspräsident Erdogan und seine AKP als Bedrohung ansehen und deshalb eindämmen wollen.

Die EU kritisiert die Aufhebung der Abgeordneten-Immunität. Sie fürchtet zugleich, Erdogan könnte die Flüchtlinge nun wieder nach Europa durchlassen. Was wäre in dieser Situation eine kluge europäische Politik?

Die türkische Demokratie war immer defekt. Wenn man sich nun verstärkt sorgt, dass diese defekte Demokratie abgleitet in ein autoritäres Regime, wäre es angemessen, die Türkei nicht ausschließlich aus der sicherheitspolitisch-strategischen Brille zu sehen und die demokratiepolitische Entwicklung hintanzustellen. Die Kooperation in der Flüchtlingskrise wäre unter gegenwärtigen Bedingungen deutlich zu überdenken, gegebenenfalls zu beenden und ein klares und deutliches Signal zu senden, dass der autoritäre Staatskurs und das, was im türkischen Parlament passiert ist, schlichtweg nicht hinnehmbar ist. Den Kurden werden alle politischen Wege der Partizipation abgeschnitten, was friedenspolitisch gefährlich ist. Wenn die Stabilität des Landes und seine demokratische Entwicklung für Brüssel wichtig sind, muss es hier ein klares Signal setzen. Die Botschaft muss lauten: So geht es nicht weiter. Aber wir sind bereit, konstruktiv beizutragen, wenn es darum geht, die demokratiepolitische Entwicklung und eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes konkret voranzutreiben. Erst am Ende einer solchen Entwicklung wäre auch die EU-Mitgliedschaft eine logische Konsequenz.

PD Dr. habil. Gülistan Gürbey lehrt am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.