Frauen in Bolivien: Opfer, nun Aktivistinnen
24. August 2022Lucrecia Huayhua ist eine Kämpferin. Sie kämpft jetzt für andere Frauen, damit die nicht das erleiden müssen, was sie selbst einmal durchgemacht hat. Als eines von 13 Kindern wurde Lucrecia mit acht Jahren aus ihrem Heimatdorf nach La Paz gebracht. Dort musste sie als Hausmädchen Geld verdienen. "Ich habe damals überhaupt nicht verstanden, was mit mir passiert ist", sagt sie. "Man sagte mir immer nur: 'Du bist nichts wert'. Ich wurde sehr, sehr schlecht behandelt. Ich hatte ein hartes Leben." Es ist heute noch schmerzhaft für sie, darüber zu sprechen.
Auch als erwachsene Frau macht Lucrecia Huayhua ähnliche Erfahrungen, flieht mit ihren Kindern vor dem gewalttätigen Ehemann. Ihr Glück: sie trifft auf Mitarbeiterinnen des Projektes OMAK, der "Organización de Mujeres Aymaras del Kollasuyo". Ein Moment, der ihr Leben grundlegend verändert hat. Lucrecia wird plötzlich klar, dass sie selbst Rechte hat. "Ich habe zum ersten Mal verstanden, dass ich etwas wert bin. Und dass ich Träume haben darf", sagt sie.
Drei von vier Frauen in Bolivien geben an, Gewalt durch ihre Partner erlebt zu haben. Jahr für Jahr werden in Bolivien 120 Frauen getötet. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist das eine der höchsten Raten an Femiziden in Lateinamerika. "Frauen brauchen mehr Rechte, und die müssen auch durchgesetzt werden", sagt Entwicklungsministerin Svenja Schulze im Gespräch mit den Frauen des Projektes OMAK in El Alto. Deutschland hilft hier finanziell. "Wir wollen die feministische Entwicklungspolitik stärker in den Mittelpunkt stellen. Denn wir sind fest davon überzeugt, dass Gesellschaften menschlicher werden, wenn Frauen gleiche Rechte haben." Deshalb achtet die Ministerin immer darauf, dass Frauen gezielt gefördert werden.
Gewalt wird über Generationen weitergegeben
"Ziel unserer Arbeit ist es, dass die Frauen aus diesen Gewaltbeziehungen ausbrechen und selbst Botschafterinnen gegen Gewalt und für Gleichberechtigung werden", so Eva Pevec, Landeskoordinatorin beim Internationalen Christlichen Friedensdienst EIRENE, ein Partner des Projektes. "Mit ihren Erfahrungen helfen sie dann anderen." So wie Lucrecia Huayhua - sie hat eine Ausbildung gemacht und setzt sich heute selbst ehrenamtlich für die Rechte von Gewalt betroffener Frauen ein.
"In Bolivien herrscht ein großer Machismus, der hier als total normal angesehen wird", sagt Pevec. "Gewalt gehört zum Leben dazu, wird als eine normale Eigenschaft des Menschen gesehen. Und so dürfen Männer ihre Frauen schlagen. Und Eltern ihre Kinder." Die Gewalt werde von Generation zu Generation weitergegeben und selten in Frage gestellt.
Oft haben die Frauen in dem Projekt zum ersten Mal in ihrem Leben die Chance über das zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Und was sie selbst an ihre Kinder weitergegeben haben. Das sei oft ein sehr schmerzhafter Prozess, sagt Pevec.
Frauen können sich nicht auf die Justiz verlassen
Bolivien ist eines der ärmsten Länder Südamerikas. Rund 80 Prozent der Bolivianer hat keinen regulären Job und dadurch keinerlei Sicherheit. Die Menschen leben von der Hand in den Mund, verkaufen ihre kleinen Ernten auf den Märkten, arbeiten als Straßenverkäufer oder Schuhputzer. Während der Corona-Pandemie ist Boliviens Wirtschaft zudem massiv eingebrochen.
Auch die Gewalt hat während der harten Lockdowns zugenommen. "Hinzu kommt eine große Verunsicherung im Land. Die Menschen spüren, dass viele Reformen dringend angepackt werden müssen", sagt Jan Souverein, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. "Das Justizsystem etwa ist korrupt und in einem jämmerlichen Zustand."
"Mörder und Gewalttäter können sich freikaufen. Deshalb bringen viele Frauen die Verbrechen nicht zur Anzeige", ergänzt Eva Pevec von Eirene. Seit 2013 gibt es in Bolivien zwar ein Gesetz, das Frauen vor allen Arten von Gewalt schützt. Der Straftatbestand Femizid wurde sogar ins Strafgesetzbuch aufgenommen und mit Höchststrafe belegt. "Wegen der Korruption greift das Gesetz aber nicht", sagt Pevec.
Klimaschutz, Energiewende, Frauenrechte - deutsche Unterstützung
Es ist lange her, dass ein Minister oder eine Ministerin aus Deutschland das südamerikanische Land besucht hat. "Ich bin hierher gekommen, weil Deutschland mehr Präsenz in Lateinamerika zeigen will. Demokratien müssen sich gegenseitig stärken", sagt Svenja Schulze.
Die Entwicklungsministerin will auch die Zusammenarbeit beim Schutz des Amazonas-Regenwaldes und bei der Energiewende verstärken. Deutschland finanziert in Bolivien für knapp 300 Millionen Euro Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Neuer Schwerpunkt: eine feministische Entwicklungspolitik, die Projekte wie das der Aymara-Frauen unterstützt.
"Ich möchte eine Welt ohne Gewalt", sagt Lucrecia Huayhua. "Dafür werde ich mit Herz, Seele und Verstand mein ganzes Leben weiterkämpfen."