Kolumbien zwischen Hoffnung und Gewalt
22. August 2022Sie kann ihre Tränen nicht aufhalten, wenn sie von ihren beiden verschwundenen Söhnen spricht. Wilmer war damals 14 Jahre alt, Robinson ein Jahr älter. "Seit 2009 habe ich einen Leidensweg durchschritten, weil ich nicht wusste, warum und wieso sie sie mitgenommen haben", sagt Eulalia Luango. "Der tiefste Wunsch einer Mutter ist es, die Reste ihrer Kinder in den Händen zu haben und ihnen ein würdiges Begräbnis geben zu können."
Luango ist eines der vielen Opfer des brutalen Bürgerkriegs in Kolumbien. "Wie finden Sie die Kraft, das alles durchzustehen und immer noch weiter zu kämpfen?", fragt Svenja Schulze. Auch sie kann im Gespräch mit der Kolumbianerin ihre Tränen kaum zurückhalten. Bogotá ist die erste Station der deutschen Entwicklungsministerin auf ihrer Reise nach Lateinamerika. Sie nimmt sich viel Zeit für die Opfer, hört zu, will verstehen, wo Kolumbien im Friedensprozess steht.
Ein mehr als ein halbes Jahrhundert langer blutiger Bürgerkrieg liegt hinter Kolumbien. Mit unvorstellbaren Verbrechen: über 450.000 Tote, 121.000 Verschwundene, fast acht Millionen Vertriebene, Tausende zwangsrekrutierte Kindersoldaten.
Kann eine Aussöhnung gelingen?
"Das Wichtigste für Kolumbien ist jetzt die Aussöhnung", sagt Francisco de Roux im Gespräch mit Svenja Schulze. Der 79-jährige Jesuitenpater ist eine der Galionsfiguren für den Frieden. Für viele in Kolumbien ist er sogar ein Heiliger, denn der Jesuit hat die Opfer des Krieges in den Blick genommen. Als Präsident der Wahrheitskommission hat de Roux den bewaffneten Konflikt aufgearbeitet und den Kolumbianern die schrecklichen Ergebnisse vorgestellt.
Zum Termin am frühen Morgen mit der Ministerin aus Deutschland fährt er mit einem kleinen Rad vor. Vier lange Jahre hat die Wahrheitskommission mit Opfern und Tätern gesprochen, hat mehr als 30.000 Interviews im ganzen Land geführt.
"Deutschland war einer der wichtigsten internationalen Unterstützer der Wahrheitskommission", sagt de Roux, "es steht ein für ein System von Vertrauen, Frieden und Gerechtigkeit." Nun hofft er, dass Deutschland die Versöhnung der Kolumbianer weiter unterstützt. Auch wenn die Gesellschaft Kolumbiens gespalten sei, die große Mehrheit der Kolumbianer unterstütze den Frieden, sagt der Jesuit: "Kolumbien befindet sich in einem Moment der Hoffnung".
Neue Regierung von Petro mit ambitionierten Zielen
Eine Hoffnung, die auch auf Kolumbiens frisch vereidigtem Präsidenten liegt. Gustavo Petro ist der erste linke Präsident des traditionell konservativen Landes. Er hat den Kolumbianern den Frieden versprochen, will die Empfehlungen zu strukturellen Reformen umsetzen, welche die Wahrheitskommission unter Pater de Roux vorgelegt hat.
Präsident Petro hat Reformen in fast allen politischen Bereichen angekündigt: eine Landreform, eine Steuerreform, eine Gesundheitsreform, den ökologischen Umbau der Wirtschaft und eine Reform von Polizei und Militär. Der Präsident will auch den Kampf gegen die Armut aufnehmen in einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben und in dem die Einkommen extrem ungleich verteilt sind.
"Diese Regierung ist mit einer Vision angetreten, hat große Erwartungen geweckt. Jetzt muss es schnell spürbare Verbesserungen geben", sagt Stefan Peters, Direktor des deutsch-kolumbianischen Friedensinstituts Capaz mit Sitz in Bogotá. Sonst bestehe die Gefahr, dass es zu heftigen Protesten der Enttäuschten kommt.
Deutschland will weiter helfen
"Entwicklungspolitik ist ein wesentlicher Bestandteil von Sicherheitspolitik", so Svenja Schulze nach ihren Gesprächen. Es müsse im wahrsten Sinne des Wortes um menschliche Sicherheit und um eine friedliche Gesellschaft gehen. Die neue Regierung Petro sei eine Zäsur in der kolumbianischen Geschichte.
Und dennoch: Der blutige Konflikt schwelt immer weiter und weiter. Trotz des historischen Friedensvertrags von 2016 mit der FARC-Guerilla. "Noch immer leben Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafter und Journalisten sehr gefährlich. Die Drogenwirtschaft floriert, ganze Landstriche sind in der Hand von bewaffneten Akteuren und außer Kontrolle des Staates", sagt Peters.
Auch die Frauen, die nach ihren verschwundenen Angehörigen suchen, klagen über Gewalt und Einschüchterungsversuche, wenn sie für ihre Rechte und gegen das Vergessen ankämpfen. "Vergessen Sie uns kämpfende Frauen nicht!", gibt Luango der Entwicklungsministerin mit auf den Weg. Svenja Schulze verspricht: "Deutschland wird Kolumbien beim Friedensprozess weiter unterstützen. Wir lassen Sie nicht allein."