Wie Ungarn EU-Recht missachtet
8. Februar 2021Ungarns Regierung gibt sich keine Mühe, den Rechtsbruch zu verbergen. Man kann ihn auf einer amtlichen Webseite nachlesen. Er ist dort akribisch für jede einzelne Kalenderwoche aufgelistet, in Kategorien und mit genauen Fallzahlen.
Es geht um die Abschiebung von Flüchtlingen aus Ungarn nach Serbien durch ungarische Grenzschützer. Laut offizieller Statistik, einsehbar auf der Webseite der ungarischen Polizei, wurden allein im Januar dieses Jahres in der Nähe des Grenzzauns zu Serbien 2824 Flüchtlinge aufgegriffen und nach Serbien zurückgedrängt. Hinzu kamen knapp 184 weitere Fälle von aufgegriffenen Flüchtlingen, die in Ungarn zunächst ein Strafverfahren durchlaufen sollten. Sie werden in der Regel ebenfalls nach Serbien abgeschoben.
Diese sogenannten Push-Backs verstoßen nicht nur gegen internationale Abkommen, die Ungarn unterzeichnet hat, etwa die Genfer Flüchtlingskonvention. Sondern seit Dezember vergangenen Jahres auch gegen ein rechtskräftiges Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dem höchsten Gericht der Europäischen Union. Das Urteil erklärt die Rückschiebungen für rechtswidrig. Doch die ungarische Regierung ignoriert den Richterspruch. Seit dem 17. Dezember 2020, dem Tag der Urteilsverkündung, schoben ungarische Grenzschützer bisher rund 5000 Flüchtlinge nach Serbien zurück. Ungarns Premier Viktor Orbán und mehrere Regierungsmitglieder haben zwischenzeitlich wiederholt bekräftigt, dass sie an dieser Praxis festhalten wollen.
"Begleitung zur Toröffnung"
András Léderer, der migrationspolitische Experte des ungarischen Helsinki-Komitees, eine der wichtigsten Nicht-Regierungsorganisationen des Landes, nennt das eine "offene und sehr schwerwiegende Missachtung" von EuGH-Urteilen und damit von EU-Recht, das für Ungarn verbindlich ist. "Es gibt im juristischen Bereich nicht oft Dinge, die glasklar sind", sagte Léderer der DW. "Aber bei EuGH-Urteilen ist das der Fall. Sie sind verbindlich und Ungarn muss sie einhalten und umsetzen. Doch die ungarische Regierung tut das nicht."
Im Amtsungarisch heißen die Rückschiebungen "Begleitung aufgegriffener illegaler Migranten zu einer Toröffnung der Provisorischen Sicherheitsgrenzsperranlage (IBH)". Gemeint ist damit der Grenzzaun zu Serbien, der seit 2015 zu einer Hochsicherheitsanlage ausgebaut wurde. Eingerichtet wurden dort auch in regelmäßigen Abständen Türen. Durch sie werden Flüchtlinge meistens unmittelbar nach Aufgreifen abgeschoben.
Verstoß gegen EU-Richtlinien
In den vergangenen Jahren war diese Praxis durch einen Trick gedeckt, jedenfalls nach Auffassung der ungarischen Regierung: Der Grenzzaun zu Serbien befindet sich auf ungarischem Territorium, einige Meter hinter der eigentlichen Grenzlinie. Die "Begleitung" von Flüchtlingen durch eine Toröffnung im Grenzzaun ist demnach keine Abschiebung - denn die Betroffenen befinden sich auch auf der Außenseite des Zauns faktisch immer noch auf ungarischem Territorium. So argumentierten Ungarns Regierungsvertreter jedenfalls immer wieder, wenn es beispielsweise um die Frage ging, ob mit den Rückschiebungen die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt sei.
In seinem Urteil vom Dezember allerdings erklärte der Europäische Gerichtshof dieses Verbringen von Flüchtlingen auf die andere Seite des Grenzzauns ausdrücklich als illegal, auch wenn es sich dort noch um ungarisches Territorium handele. Da Betroffene keine andere Wahl hätten, als das ungarische Territorium zu verlassen, sei dies gleichbedeutend mit einer Abschiebung. Eine Rückführung ohne bestimmte Garantien wie eine Einzelfallprüfung verstoße jedoch gegen EU-Richtlinien.
Zermürben und Aushungern
Es ist nicht das erste Mal, dass der EuGH Ungarns Regierung wegen seiner Flüchtlingspolitik verurteilt. Im Mai vergangenen Jahres erklärte das Gericht in Luxemburg die Art der Unterbringung von Flüchtlingen in den sogenannten Transitzonen für rechtswidrig. Ungarn hatte Ende 2015 am Grenzzaun zu Serbien zwei Transitzonen eingerichtet, in denen Flüchtlinge Asyl beantragen konnten. In den vergangenen Jahren waren die Aufenthaltsbedingungen dort Stück für Stück verschärft worden. Paare und Familien wurden getrennt, nur Babys durften bei ihren Müttern bleiben. Die Unterbringung erfolgte in extrem beengten Räumen und ähnlich wie in einem Hochsicherheitstrakt. Zuletzt bekamen Flüchtlinge auch so gut wie keine Verpflegung mehr.
Als Zermürben und Aushungern kritisierten ungarische Bürgerrechtler diese Praxis. Die ungarische Regierung argumentierte demgegenüber, die Flüchtlinge seien nicht inhaftiert, sie könnten die Transitzone jederzeit verlassen, um sich Verpflegung zu besorgen. Ein Verlassen der Transitzone hat nach ungarischem Asylrecht jedoch automatisch zur Folge, dass das Verfahren für Betroffene endet und sie keinen neuen Asylantrag mehr stellen können.
Der EuGH hatte die Bedingungen in den Transitzonen als widerrechtlichen Freiheitsentzug bewertet; Ungarn hatte die Transitzonen daraufhin geschlossen. Seitdem können Flüchtlinge nur noch in ungarischen Botschaften von Nicht-EU-Mitgliedern Asyl beantragen, in erster Linie in Serbien und der Ukraine. Wegen dieser Regelung hat die Europäische Komission im vergangenen Herbst ein weiteres Verfahren gegen Ungarn angestrengt, das derzeit noch läuft.
Inkonsequente EU-Kommission
Mit welcher Begründung die ungarische Regierung es nun ablehnt, das EuGH-Urteil vom Dezember umzusetzen, wollte der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács auf Anfrage der DW nicht beantworten. In einer schriftlichen Stellungnahme seiner Kommunikationsabteilung, die nahezu wortgleich einem Facebook-Post der ungarischen Justizministerin Judit Varga von Dezember vergangenen Jahres entspricht, heißt es: "Die Regierung schützt Ungarns und Europas Grenzen auch weiterhin und wird alles dafür tun, die Bildung internationaler Migrantenkorridore zu verhindern." Im Übrigen seien die Bedingungen, über die das Verfahren geurteilt habe, nicht mehr gegeben, daher sei das Urteil hinfällig. Was damit konkret gemeint ist, teilt Kovács nicht mit.
Angesichts der Weigerung der ungarischen Regierung, das EuGH-Urteil von Dezember 2020 umzusetzen, fordert András Léderer vom ungarischen Helsinki-Komitee die Europäische Kommission auf, tätig zu werden. "Es gäbe die Möglichkeit, gegen Ungarn wegen Nicht-Vollstreckung von EuGH-Urteilen finanzielle Sanktionen in Form von täglichen Strafgeldern in erheblicher Höhe zu verhängen", so Léderer. Optimistisch ist der Bürgerrechtler nicht. "Leider sieht es so aus, als sei die EU-Kommission nicht so konsequent wie sie sein müsste, wenn ein Mitgliedsstaat geltendes Recht missachtet."