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Flüchtlingsteam: Inspiration statt Bürde

Ronny Blaschke
22. August 2021

Zwölf Millionen Flüchtlinge leben mit einer Behinderung, doch in Politik und Medien werden sie kaum erwähnt. Bei den Paralympics in Tokio wollen sechs Athleten mit Fluchterfahrung nun für positive Schlagzeilen sorgen.

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Shahrad Nasa
Diskusswerfer Shahrad Nasajpour stammt aus dem Iran, lebt und trainiert mittlerweile aber in den USABild: Christian Petersen/Getty Images

Shahrad Nasajpour möchte weniger über seine Flucht sprechen, sondern mehr über das Ankommen. In seiner Heimat Iran wurde ihm das ganze Leben lang eingeredet, dass die USA der Erzfeind seien. Nun landete er 2015 in San Francisco, als politischer Flüchtling mit gebrochenem Englisch. "Ich war auf mich allein gestellt, ich habe meine Familie vermisst", sagt er im Videointerview und wirkt nachdenklich. "Ich musste mir diese neue Welt erst erschließen."

Der 31-Jährige lebt seit der Geburt mit einer zerebralen Lähmung, auf seiner linken Seite ist seine Beweglichkeit eingeschränkt. Er hatte sich schon immer für Sport interessiert, spielte Tischtennis, wechselte später zum Diskuswerfen und Kugelstoßen. Für den Iran nahm er 2011 an der Para-Juniorenweltmeisterschaft in Dubai teil, doch immer wieder geriet er in Konflikt mit den religiösen Regeln der Islamischen Republik. Zum Beispiel, weil er bei einem Wettbewerb einer Frau die Hand reichte. Irgendwann ließen ihn die Funktionäre nicht mehr trainieren, es wurde gefährlich, daher flog er in die USA und beantragte Asyl.

Der Alltag für Nasajpour wurde sicherer, aber er blieb kompliziert. Er lernte Englisch, reiste von Bundesstaat zu Bundesstaat, suchte nach Hilfsorganisationen. Zu jener Zeit 2016 informierte das Internationale Olympische Komitee IOC über sein Flüchtlingsteam für die Sommerspiele von Rio. "Und was ist mit den Paralympics?", fragte sich Nasajpour. Er schrieb eine E-Mail an das Internationale Paralympische Komitee. Das IPC verwies ihn an das Paralympische Komitee der USA. Aber für einen Start in Rio brauchte er eine amerikanische Staatsbürgerschaft, und dieser Prozess würde sich lange hinziehen. Nasajpour schrieb weitere E-Mails. Einige Monate später, im August 2016, stellte das IPC sein zweiköpfiges Flüchtlingsteam für die Paralympics von Rio vor. Hier spielte die Nationalität keine Rolle. Einer der beiden Athleten: Shahrad Nasajpour.

Sportliche Aktivistin in der Politik

Weltweit sind mehr als 82 Millionen Menschen auf der Flucht, zwölf Millionen leben mit einer Behinderung. Diese Zahlen dürften weiter steigen, auch mit Blick auf die Krise in Afghanistan. "Nach all den Entbehrungen und Hindernissen in meinem Leben hat der Sport mir wieder Selbstsicherheit gegeben", sagt Nasajpour. "Wir können bei den Paralympics zeigen, dass Flüchtlinge und Asylsuchende nicht nur eine Bürde sind. Auch wir können Menschen inspirieren." Bei der Abschlussfeier in Rio trug er die Fahne des Flüchtlingsteams, nun bei den am Dienstag beginnenden Paralympics in Tokio ist er wieder dabei.

Fünf Athleten und eine Athletin vertreten in Japan das Flüchtlingsteam des IPC. Ihre Biografien werfen ein Licht auf Konflikte, Terror und Verfolgung, aber auch auf Durchsetzungswillen, Empathie und Zusammenhalt. Da ist zum Beispiel Parfait Hakizimana aus Burundi im Osten Afrikas. Seine Mutter wurde von Aufständischen getötet, er selbst wurde angeschossen, seitdem ist sein linker Arm gelähmt. Hakizimana lebt seit 2015 in einem Flüchtlingscamp in Ruanda, dort eröffnete er ein Taekwondo-Camp für Kinder und Jugendliche. In dieser Sportart tritt Hakizimana in Tokio an, damit geht für ihn ein Traum in Erfüllung.

Das gilt auch für Alia Issa, aufgewachsen in Griechenland, dem Zufluchtsort ihrer syrischen Familie. Mit vier Jahren erkrankte Issa an Pocken, das hohe Fieber führte zu Hirnschäden, seitdem ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Wegen ihrer Sprachprobleme wurde sie in der Schule von anderen Kindern ausgegrenzt. Erst später durch Boccia und Leichtathletik fühlte sie sich wieder als Siegerin. Inzwischen diskutiert Alia Issa mit Aktivisten und Politikern über die Rechte von Menschen mit Behinderung, unter anderem mit der griechischen Regierung. In Tokio startet sie im paralympischen Keulenwurf.

Das Erbe eines geflohenen Mediziners

Damit folgen die Athleten im Grunde einer Tradition. Denn die Paralympische Bewegung fußt auf den Errungenschaften eines Mediziners, der ebenfalls vor Krieg und Verfolgung fliehen musste. Der deutsch-jüdische Neurologe Ludwig Guttmann kam 1939 mit seiner Familie nach England. Im Krankenhaus der Kleinstadt Stoke Mandeville, nordwestlich von London, stellte er die Behandlung für Querschnittsgelähmte um. Bald darauf trieben viele Patienten Sport. Die Bewegung stärkte ihr Immunsystem und erhöhte ihre Lebenserwartung.

1948 organisierte der Flüchtling Guttmann einen Wettkampf im Bogenschießen und Tischtennis für Kriegsversehrte. Die Spiele von Stoke Mandeville begannen am selben Tag wie die Olympischen Spiele in London. Sie brachten verwundete Flüchtlinge und ehemalige Soldaten zusammen. 1960 mündete Guttmanns Idee in den ersten Paralympischen Spiele in Rom. Immer wieder nehmen seither Flüchtlinge für ihre neuen Nationen teil.

2012 London Paralympics - Tag 7 - Schwimmen I Ileana Rodriguez
Ileana Rodriguez war bereits bei den Paralympics 2012 in London für die USA am StartBild: Mike Ehrmann/Getty Images

Dieses Erbe wollen die Athleten in Tokio fortführen, sagt Ileana Rodriguez, die Koordinatorin des Flüchtlingsteams in einem Videointerview. "Unsere Sportler können die Wahrnehmung vieler Menschen beeinflussen, die negativ auf Flüchtlinge schauen." Rodriguez lebt mit einer Rückenmarksschädigung. Als Teenager floh sie mit ihrer Familie aus Kuba nach Miami. Sie fühlte sich isoliert, doch in der Schwimmhalle merkte sie, was in ihr steckt. Rodriguez nahm an den Paralympics 2012 in London teil und wurde später Athletenvertreterin des Paralympischen Komitees in den USA. Als Chefin de Mission hat sie zuletzt zahlreiche Videokonferenzen mit den geflüchteten Athleten geführt, in unterschiedlichen Sprachen und Zeitzonen. "Das kostet Energie. Aber die Aufmerksamkeit bei den Paralympics hilft uns, um für die Rechte von Menschen mit Behinderung einzutreten."

Symbolische Kraft - aber auch nachhaltig?

Die geflüchteten Athleten bei den Paralympics haben symbolische Kraft, doch wie weit ihr Einfluss tatsächlich reicht, das müsse man abwarten, sagt Ali Alssalami. Der Inklusionsaktivist des Vereins "Sozialhelden" lebt in Köln, er ist im Para-Klettern und Rollstuhlbasketball aktiv. Als Kind war er mit seinen Eltern aus dem Irak nach Algerien und dann nach Deutschland geflohen. "Es ist wichtig, dass wir über die medialen Großereignisse hinaus auf Strukturen schauen", sagt Alssalami. Sind die Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland barrierefrei? An wen können sie sich für Sozialleistungen wenden? Wo können sie sportlich aktiv werden und sich engagieren? "Solche Themen suche ich in den Medien vergeblich." Vielleicht ändert sich das durch die Paralympics zumindest ein bisschen.